Sonntagmorgen in der Acht- oder Neun-Millionen-Stadt Bogotá. Wer sich wegen des meist kühlen Wetters nicht unter der Bettdecke verkriecht, nicht mit dem Fahrrad auf den gesperrten Hauptstraßen unterwegs ist oder mit Freunden einen Ausflug ins Umfeld macht, der geht in einen Gottesdienst.
Zigtausende Menschen strömen den ganzen Sonntag über zum Wallfahrtsort des „göttlichen Jesuskinds“, Divino Niño genannt. Von 6 Uhr morgens bis 20 Uhr abends wird hier stündlich an bis zu drei Orten
gleichzeitig Messe gefeiert. Vor der Statue des Jesuskinds verharren die Frauen und Männer in stillem Gebet.
Ausgesprochen viele Schwangere sind sichtbar. Paare stehen beieinander und beten gemeinsam. Kinder werden von ihren Eltern gesegnet. Die Menschen erhoffen sich Wohlergehen für ihre Familien.
Mein Taxifahrer erzählt, dass seine Frau an neun aufeinander folgenden Sonntagen hier zum Jesuskind gepilgert sei, um für den Erhalt ihrer Ehe zu beten. Das erhoffte Wunder sei eingetreten: Er sei bis heute
mit seiner Frau zusammen. Wer zum Bild des Jesuskindes gelangen will, muss zuvor über den sonntäglichen Markt laufen. Angeboten werden vor allem preiswerte Kleidung und Spielzeug. Das Divino Niño ist der populärste Wallfahrtsort in Bogotá, aber nur einer unter mehreren.
Hilfe aus der Armut wird nur von „oben“ erwartet Es ist ein typisches Beispiel für die weit verbreitete katholische Volksreligiosität in Kolumbien. Besonders ist daran, dass der Wallfahrtsort mit einem großen Sozialwerk für verarmte Familien verbunden ist. Immer wieder sieht man Leute aller Schichten, die im
Eingang der Kirche eine Einkaufstasche mit Lebensmitteln für bedürftige Familien spenden. Von meinem
Wohnort aus gesehen gibt es im Umkreis von 500 Metern fünf verschiedene christliche Kirchen. Auch hierhin
strömen die Menschen. Samstags die Adventisten, sonntags Mennoniten, Baptisten, Pfingstler und Katholiken.
Auffallend ist, dass gerade in den Vierteln, wo die Armut besonders hoch ist, die nichtkatholischen
Kirchen stark präsent sind und weiter wachsen. Eine Erklärung dafür ist, dass die verarmte Bevölkerung
eine Verbesserung ihrer Situation nur von außen bzw. von „oben“ erwartet. Aus eigener Kraft scheint es nicht möglich, etwas zu verändern.
In Bogotá ist die Religiosität der indianischen und afrokolumbianischen Bevölkerung nur wenig bewusst. Ihre über Jahrhunderte überlieferte Spiritualität ist bis heute lebendig, auch in der Stadt. Aus dem indianischen Bewusstsein der Einheit von Mensch und Natur und durch die Verehrung der lebensspendenden Mutter
Erde wird das technisch-rationale Weltbild der Stadtbevölkerung hinterfragt. Neue Anhänger findet diese Religiosität in der mestizischen Mittelschicht. Die schwarze Bevölkerung lebt eine Religiosität, in der sich
afrikanische Traditionen, Erfahrungen der Sklaverei und christliche Inhalte vermischen. In Bogotá gehören mittlerweile 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung evangelischen, pfingstlerischen und charismatischen
Kirchen an. Die katholische Kirche verliert ihr Alleinstellungsmerkmal, auch wenn sie politisch und kulturell immer noch tonangebend ist. Sie versucht sich anzupassen, indem ihre Gottesdienste in den
Pfarreien zunehmend charismatischer werden: Gefühlsbetonte Musik, Beschwören des Heiligen Geistes und Showeinlagen prägen immer mehr ihre Gottesdienste.
Ökumenische Aktivitäten sind bis heute eine Seltenheit. Zu stark ist noch die Geschichte der gegenseitigen Verfolgung im Zeitraum von 1900 bis 1950 in den Gedächtnissen präsent. Ein Prozess der Versöhnung
zwischen den Kirchen hat nicht stattgefunden. In der Stadt setzt sich die Kirche sozial wenig ein Wie steht es mit dem sozialen und erzieherischen Engagement der Kirchen in Bogotá? Ein Großteil der Schulen, über
alle sozialen Schichten hinweg, sind in der Hand der katholischen Kirche. Religionsunterricht wird in der Schule erteilt. Es gibt nur wenige Universitäten, die Personal für den Religionsunterricht ausbilden.
Immer mehr Kirchen bieten mittlerweile eigene Schulen mit Abiturabschluss an. Diese werden vom Staat anerkannt. In Bogotá ist das soziale Engagement der katholischen Kirche relativ gering, verglichen mit dem Engagement in ländlichen Regionen, wo der Bürgerkrieg humanitäre Katastrophen auslöst und es politisch
wache Kommissionen für Leben, Gerechtigkeit und Frieden gibt. Die Caritas ist in Bogotá Sache der Pfarreien. Vor allem werden Lebensmittel verteilt und Kranke besucht. Entsprechend begrenzt ist die
Wirkung der Kirche, um die soziale Situation zu verbessern. Mit anderen Worten: Pfarreien und Katholik/-innen beschränken sich in ihrem religiösen Leben auf die Sakramentenspendung sowie auf
die Glaubensunterweisung. Die anderen Kirchen gewinnen ihre Mitglieder dadurch, dass sie durch kleinere Gemeinden eine größere Nähe zu den Leuten und ihren Sorgen haben. In den verarmten Vierteln sind katholische Pfarreien mit 30 000 Mitgliedern und einem Pfarrer keine Seltenheit. Ein Hindernis sind nicht nur
die Bedingungen des Zugangs zum Priesteramt, sondern auch die Art und Weise, wie die Priester ihre Aufgaben verstehen: vorab als Sakramentenspender und alleinige Leiter des Pfarreilebens. Dieses Selbstverständnis der Priester wird von den Laien häufig unwidersprochen hingenommen. Zunehmend distanzieren sich die Laien innerlich Aber die Laien distanzieren sich innerlich. Man nimmt an der Messfeier teil, glaubt dem Priester aber nicht mehr, was er verkündigt. Christlicher Glaube bleibt so eine Sache der einzelnen, die Gemeinschaft der Gläubigen ist nur schwach ausgebildet. Der Weg, den die katholische Kirche in Bogotá vor sich hat, wird schwierig. Es braucht eine tiefgehende pastorale Erneuerung, um zu werden, was sie sein möchte: eine Wohnstatt für geschwisterliche Völker und ein Heim für die Armen.
Der Autor ist Fachkraft der Bethlehem Mission Immensee in Bogotá.
Markus Büker
Markus Büker gehört zu den vier Gästen aus Kolumbien, die anlässlich des 50-Jährigen der Partnerschaft zwischen der kolumbianischen Kirche und dem Bistum Aachen durch alle Regionen unserer Diözese reisen.
Laien aus Basisgemeinden in Bogotá, die Markus Büker als Fachkraft betreut, erhalten gleich zu Beginn der Jubiläumswoche am 17. September die Auszeichnung als „Lebendiger Schatz im Bistum Aachen“.
Leserinnen und Leser, die Markus Büker und seine Erfahrungen in Bogotá näher kennenlernen möchten, haben dazu gleich mehrfach Gelegenheit.
Im Internet steht unter www.kolumbienpartnerschaft.de das gesamte Jubiläumsprogramm. Zwei Themenabende zur Zukunft Kolumbiens eröffnen Möglichkeiten, mehr über das Partnerland und seine Herausforderungen zu hören und darüber mit den Gästen zu diskutieren: