Lebensmittelchemie statt Bomben bauen

Zwei Tumaqueñas schaffen den Sprung ins Chemiestudium

Camila López, Chemiestudentin, im Labor. (c) Privat
Camila López, Chemiestudentin, im Labor.
Datum:
Do. 7. Dez. 2023
Von:
Ulrike Purrer
In der Küstenstadt Tumaco fehlt es an vielem - vor allem an Infrastruktur, Bildung, Nahrungsmitteln, Sicherheit und Zukunftsperspektiven.
In den letzten Jahren hat Tumaco die Mordstatistiken in Kolumbien mit über 300 Morden pro 100.000 Menschen angeführt (Deutschland 0,8 pro 100.000). Mehr als die Hälfte der Ermordeten in Tumaco sind zwischen 15 und 29 Jahre alt. Seit etwas mehr als einem Jahr hat sich die Lage etwas beruhigt, dennoch gibt es nach wie vor Morde, Erpressungen und Entführungen.
In Tumaco sind 45 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Laut der NGO Save the children werden 90 % der Mädchen vor ihrem 20. Geburtstag schwanger, 5 % vor dem 15. Geburtstag. Schwangerschaften von Jugendlichen werden oft von der Guerilla und den Paramilitärs als strategisches Mittel genutzt, um die Mädchen an die Kindsväter aus ihren Reihen zu binden und so in bestimmten Stadtvierteln oder Regionen Fuß zu fassen.
Der Anteil der Bevölkerung, der in Elendsvierteln und vom Drogengeschäft lebt, beträgt nach Schätzungen deutlich über 50%.
Das Bildungsniveau liegt weit unter dem nationalen Schnitt und die Arbeitslosigkeit beträgt über 70 %. So sehen viele junge Menschen keine Alternativen zu frühen Schwangerschaften, Prostitution oder Eintritt in eine der bewaffneten Gruppen.

Aber es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel Karen Cuero (26) und Camila López (21). Beide stammen aus einfachsten Verhältnissen. Ihre alleinerziehenden Mütter ringen ohne Festanstellung um die finanzielle Stabilität ihrer Familien und die Bildung ihrer Kinder. Etliche Freunde und Verwandte haben den Weg in die Illegalität gewählt und nicht wenige sind dabei umgekommen. Die beiden jungen Frauen wollen es anders machen. Sie sind geprägt von der Jugendarbeit der Comboni-Missionare, waren jahrelang in Jugendgruppen engagiert und haben dort Zukunftsträume entwickelt. Nach dem Abitur interessierten sich Karen und Camila für Naturwissenschaften und erkämpften sich als Erste ihrer Familien einen Studienplatz. Camila studiert im vierten, Karen im siebten Semester Chemieingenieurwesen in Bogotá. Sich von ihrer dörflich geprägten, tropischen Heimat mit afrokolumbianischen Traditionen auf eine Neun-Millionen-Metropole auf 2600 m Höhe umzustellen war für beide schwierig. Finanzielle Unterstützung kommt nach ihren Möglichkeiten von den Müttern und von einem Studienprogramm der Comboni-Missionare. Diese sind auch Ansprechpartner vor Ort und intergireren die Studentinnen als Jugendleiterinnen in ihre Arbeit in den Armenvierteln der Hauptstadt.
Die Universität der beiden funktioniert nach einer Art BAFöG-System. Zur Einschreibung sind alle Unterlagen über die Eigentumsverhältnisse der Familie vorzulegen, wonach die Studiengebühren berechnet werden. Für Karen und Camila bedeutet das den Mindestbetrag von 26 € pro Semester. Die Universität führt im ganzen Land Aufnahmeprüfungen durch, die in Tumaco jährlich etwa 80 der 2000 Abiturient:inn:en bestehen. Vom Ergebnis der Aufnahmeprüfung hängt es ab, welche Fächer studiert werden können.
Camila López interessiert sich für die Chancen und Risiken der industriellen Lebensmittelherstellung. Denn diese hat das Leben und die Gesundheit der Menschen in den letzten Jahrzehnten in Kolumbien stark verändert. Sie möchte einen Beitrag in ihrer Heimat leisten: "Tumaco leidet an Nahrungsmittelknappheit und ich hoffe, als Chemieingenieurin die Situation zu verbessern. [...] Am schwierigsten sind für mich die Berechnungen für die Transformation der Laborstoffe, die immer zu überprüfen sind, damit im Labor kein Chaos herrscht."
Mit einem Schmunzeln erinnert sich Karen Cuero an  die ersten familiären Reaktionen auf ihr Studienfach: "Meiner Mutter ist es egal, was ich studiere. Sie ist einfach glücklich, dass ich die Möglichkeit habe." Andere Verwandte hätten sie gefragt, ob sie nun Bomben bauen könne. Sie lacht, denn sowohl  Karen als auch Kamila träumen vom Frieden in Kolumbien und wollen als Chemieingenieurinnen ihren Beitrag dazu leisten.

(Gekürzte Version eines Artikels von Ulrike Purrer für die Zeitschrift "Nachrichten aus der Chemie" Nr. 71 (November 2023))