Ansprache von Christoph Simonsen 26. Sonntag im Jahreskreis (A)

Datum:
So. 27. Sept. 2020
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

 

Evangelium Mt 21, 28-32

In jener Zeit sprach Jesus zu den Hohepriestern und den Ältesten des Volkes: Was meint ihr? Ein Mann hatte zwei Söhne. Er ging zum ersten und sagte: Mein Kind, geh und arbeite heute im Weinberg! Er antwortete: Ich will nicht. Später aber reute es ihn und er ging hinaus. Da wandte er sich an den zweiten und sagte zu ihm dasselbe. Dieser antwortete: Ja, Herr – und ging nicht hin. Wer von den beiden hat den Willen seines Vaters erfüllt? Sie antworteten: Der erste. Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, ich sage euch: Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr. Denn Johannes ist zu euch gekommen auf dem Weg der Gerechtigkeit und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und die Dirnen haben ihm geglaubt. Ihr habt es gesehen und doch habt ihr nicht bereut und ihm nicht geglaubt.

 

 

 

Ansprache:

Manchmal legen gerade die unwirklichen, die erdachten und ersponnenen Gedanken der Menschen die Finger in die Wunden des Lebens: Märchen, Geschichten, Romane, Gedichte.

 

Da lese ich im Roman ‚Mitternachtskinder‘ von Salman Rushdi folgenden Satz: „Kinder bekommen Essen, Obdach, Taschengeld, große Ferien, Liebe, dem Anschein nach alles frei und umsonst, und die meisten der kleinen Narren glauben, es sei eine Art Entschädigung dafür, dass sie geboren worden sind.“ 

 

Ich musste diesen Satz immer wieder lesen und hatte ganz verschiedene Assoziationen. Haben Kinder tatsächlich solch abwegige Gedanken? Ist, heute geboren werden, wirklich solch ein Unglück? Müssen Eltern sich in unserer Gesellschaft heute dafür schämen, Kindern das Leben zu schenken? Ist unsere Welt wirklich so runtergekommen, dass schon Kinder nicht mehr zweckfrei zu leben 

vermögen?

 

Was Salman Rushdi da schreibt, klingt wirklich abwegig, vielleicht sogar widerwärtig. Aber – wie anfangs gesagt – manchmal birgt das Erfundene und Erdachte mehr Wahrheit in sich, als wir uns in der Wirklichkeit vorzustellen erlauben. Wir sind Meisterinnen und Meister im Verdrängen, malen uns die Welt, wie wir sie gern hätten.

 

Kinder, die morgens mit dem Zweitwagen der Familie zur Schule gebracht und abgeholt werden, wachsen auf in einer Welt, in der am Rande Europas Kinder um Wasser betteln müssen. Wie verkraften Kinder diesen unüberwindbaren Zwiespalt? Kinder, denen es an nichts fehlt, gehen auf die Straße – wie am vergangenen Freitag nach langer Zeit wieder – und bangen um ihre Zukunft angesichts mangelnden Mutes der Gesellschaft, die zu starr und unbeweglich ist, den Klimawandel ernsthaft als Bedrohung wahrzunehmen. Kinder, die mit ihren Eltern ins Outlet Center nach Holland fahren, müssen wissen, dass so manches von dem, was sie dort kaufen, unter unmenschlichen Bedingungen von Kindern in Bangladesch hergestellt wurde. Kindern heute wird eine Welt zugemutet, die alles andere als eine gesicherte Zukunft ahnen lässt.

 

Und biblisch betrachtet, sind wir schließlich ja alle Kinder, Kinder Gottes. Jede und jeder von uns hat seine eingespielten Mechanismen, zu verdrängen, was nicht ins Bild passt. Aber unmissverständlich gilt: In solch einer Welt leben wir und solch eine Welt muten wir unseren Kindern und Kindeskindern zu. Was Salman Rushdie in eine unwirkliche Geschichte gepackt hat, weil es so einfacher zu sagen ist, das wagen die meisten von uns nicht auszusprechen, auch wenn sie es manchmal vielleicht sogar im Stillen denken. Das Leben ist eine Zumutung; das eigene Leben auf die Reihe zu kriegen, ist anstrengend, jeden Tag neu. Die unbeschwerten, schönen, fröhlichen, lustvollen Stunden unseres Lebens: Sind sie die Entschädigung für diese große Lebenstragik, die uns umhüllt?

 

Wir sind hier, weil wir uns auf Jesus Christus berufen. Sein Leben war auch nicht weniger eine Zumutung. Und das, was er gesagt hat, wie er gelebt hat: ist das nicht unzumutbar für uns zivilisierten, bürgerlichen, anständigen Menschen? „Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ Die Dirnen, die ihren Körper anbieten, die Zöllner, die sich im damaligen System über die Maßen bereichert haben, die sind dem Reich Gottes näher als wir? Welch eine provokante Aussage. Muss sie nicht zu Protest herausfordern? 

 

Bevor wir diese Überzeugung Jesu beiseiteschieben und uns selbstgerecht abwenden, sollten wir vielleicht mal fragen, aus welchem Beweggrund er so etwas Unerhörtes behauptet. Er legt, ähnlich wie Salman Rushdi, seine Finger in die Wunden des Lebens. Auch er überzieht und übertreibt vielleicht in seinem Gleichnis. Aber in dieser Übertreibung liegt eben auch der berühmte Funke Wahrheit. Und die Wahrheit ist eben nicht selten eine Zumutung.

 

Den Hohenpriestern und den Ältesten des Volkes, den Glaubenshütern und den Weisen der Stadt stellt dieser Narr Jesus die Dirnen und Zöllner als Vorbilder gegenüber. Warum?? Vielleicht, weil sie sich all zu sehr arrangiert haben mit dem Ist-Zustand der Welt? Weil sie das Leben in dieser Welt eben nicht mehr als Zumutung empfunden haben, als eine Zumutung, die im Namen Gottes zu einer erneuernden Herausforderung werden sollte? Weil sie sich bequem eingerichtet haben und den Glauben schön und angepasst integriert haben in die Ungerechtigkeiten dieser Welt? Weil sie Gott zurecht gestutzt haben, bis er in ihr System reinpasste? Weil sie die anderen verändern wollten und selbst starr und selbstsicher geblieben sind? 

 

Das Leben in dieser Welt ist eine Zumutung. Und als Christin und Christ sind wir herausgefordert, uns dieser Zumutung zu stellen. Es wäre schon ein großer Schritt, wenn wir ein wenig unruhiger durch die Welt gehen würden, uns nicht zufrieden geben mit dem, was ist, uns nicht zufrieden geben mit dem, was wir sind und haben, sondern uns immer wieder neu in Frage zu stellen und auch stellen zu lassen. Und um im Bild der Dirnen und Zöllner zu bleiben, so wäre unser Leben schon dann ehrlicher, eindeutiger, wenn wir uns eingestehen würden, nichts besseres zu sein als die anderen und uns eingestehen würden, dass unser Leben ähnlich zerrissen und widersprüchlich ist wie das ihre. 

 

Eindeutigkeit beinhaltet Ehrlichkeit. Die Erwartung Jesu ist nicht, dass unser Leben klar und unmissverständlich ist; seine Erwartung ist auch nicht, dass das Leben vor Gott und mit den Menschen lupenrein und sündenfrei sein muss; was er erwartet, ist schlicht eine gehörige Portion Ehrlichkeit vor sich selbst und vor den anderen. Und seine Hoffnung ist, dass in einer ehrlichen Begegnung, die Menschen gleichzeitig auch barmherziger begegnen werden. 

 

Das Leben wird auch in Zukunft eine Zumutung bleiben. Und auch Sie und ich werden weiterhin eine Zumutung für die Welt sein. Es ist, wie es ist. Ehrlich währt am längsten. Das ist keine Binsenweisheit, das ist der Schlüssel, um Gott und die Welt besser verstehen zu lernen. Die frohe Botschaft ist zuweilen sehr nüchtern und ernüchternd. Nichtsdestotrotz möchte sie Leben stärken, heilen, ermutigen, es anzunehmen. Unser Glaube bleibt die Brücke zwischen Nüchternheit und Hoffnung.

--  Christoph Simonsen Leiter der Citykirche Mönchengladbach Kirchplatz 14 41061 Mönchengladbach Telefon: +4921612472414 https://www.citykirche-mg.de