Die Ansprache am Abend des Neujahrstags in der Citykirche:
Gibt es irgendetwas, was uns hoffnungsfroh in dieses neue Jahr 2023 gehen lässt? Ehrlich gesagt, bin ich skeptisch. Nichts ist heute anders, als es gestern gewesen ist. Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht in Sicht; die Uiguren werden als Volk weiter in China und anderswo unterdrückt; Frauenrechte in den islamischen Staaten bleiben unvorstellbar.
Und auch in unserer Kirche wird es immer trübseliger:
Sie scheut substantielle Veränderung wie der Teufel das Weihwasser; das Durchschnittsalter jener Menschen, die sich in den Kirchen überhaupt noch engagieren, steigt stetig weiter an; die Zahl der Kirchenaustritte steigt nicht minder stetig. Missbrauch und Misstrauen treiben ihre Blüten und lassen die Kirche als relevante Mitgestalterin unserer Gesellschaft immer mehr in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.
Euphorisch gehe ich nicht in dieses neue Jahr, eher abgekämpft und illusionslos. Mir ist sehr wohl bewusst, dass solch nüchternen Einsichten einen runterdrücken und zermürben, und ja, so fühle ich mich auch manchmal. Da mischt sich Hilflosigkeit mit Wut darüber, hilflos zu sein; aber auch mit Wut darüber, der eigenen Lethargie zu verfallen.
Ich bin deshalb dankbar für ein anderes Gefühl, eine andere Wahrnehmung. Ihrer wurde ich mir bewusst, als ich am Ende des Gottesdienstes am vergangenen Dienstag hier in der Citykirche den Segen über uns alle ausgesprochen habe, die wir in der Kirche waren, und mir dabei klar wurde, dass Segen keine routinierte Gebetsformel ist, sondern ein heilsamer Zuspruch, der wirklich etwas bewirkt. Es gibt Orte, an denen Menschen etwas Gutes zugesprochen bekommen; es gibt Orte, an denen Menschen ohne Angst sein können, mag es eine Kirche oder ein anderer Schutzort sein; es gibt Orte, an denen Menschen sich frei bewegen können, an denen sie sich frei fühlen können; es gibt Orte, an denen Menschen etwas lassen können, etwas loslassen können und auf neue Ideen und Perspektiven stoßen, die ihnen das Leben erfüllter werden lassen. Es gibt Orte, da erkennen Menschen, dass sie wert sind. Und wo Menschen sich ihrer Würde bewusst werden, da können sie wachsen und sich einbringen in das Leben der Welt.
Solche Orte gibt es wirklich, auch und gerade in Zeiten, in denen ich und vielleicht ja auch einige andere Menschen den Kopf sinken lassen und sich festbeißen an dem Gedanken, dass sich ja doch nichts mehr ändert im Leben.
Lebensorte suchen, darauf bauen, dass es sie gibt, das könnte ein Antrieb sein, zuversichtlich in das neue Jahr 2023 hineinzugehen. So, wie die Hirten sich aufgemacht und einen Hoffnungsort in Bethlehem gefunden haben, so könnten auch wir uns aufmachen, für uns Seelen-Tankstellen zu finden, wo wir Kraft zum Leben schöpfen können. Das kann eine Kirche sein, das kann ein Museum sein, das kann eine Straße sein, die uns vertraut ist. Orte, an denen wir darüber nachdenken können, wie wir Leben gut gestalten können, für uns selbst wie auch für andere; Orte, an denen wir uns gesegnet fühlen; Orte, an denen wir die Zeiten zusammenführen: Vergangenheit, Gegenwart und eine geahnte Zukunft.
Maria bewahrte, was ihr widerfahren ist und dachte darüber nach. Was ihr widerfahren ist, war alles andere als romantisch schön; Leben ist halt kein Wunschkonzert, wie man so flapsig sagt; Leben ist, wie es ist, und es ist eben nur selten einfach nur schön und unbeschwert. In dieser Erkenntnis zu verharren, darin stecken bleiben und aufgeben, das ist die Gefahr. Deshalb heißt es dann bei Lukas ja auch weiter, dass Maria über all das Widerfahrene nachdachte.
Am vergangenen Mittwoch saß ich mit einem Herrn bei mir hier im Büro und er vertraute mir an, dass seine Töchter den Kontakt zu ihm aufgegeben hätten, worunter er sehr leide. Nichts ist anders geworden am Ende unseres Gespräches; das Schweigen war immer noch lautstark zu hören, die Traurigkeit ergoss sich in einem stillen Weinen des Mannes und die Hilflosigkeit zeigte sich in dem traurigen Gang, als er nach Hause ging. Und doch ist etwas anders gewesen nach dem Gespräch: der Vater vermochte aussprechen, wofür er bisher keine Worte gefunden hatte; er konnte ein Gefühl mit seiner Person verknüpfen und er konnte sich selbst aushalten. Er hat eine schmale Spur zu sich gelegt und zugelassen, dass auch seine Geschichte in die Entscheidung seiner Kinder eingebunden ist.
Für dieses neue Jahr wünsche ich uns Orte, die uns zu Lebensorten werden; Zuspruch, der uns zum Segen wird und Möglichkeiten des Austauschs, die uns uns selbst näher bringen.