Ansprache von Christoph Simonsen zu Allerheiligen

Datum:
So. 1. Nov. 2020
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

Evangelium: Mt 5,1 - 12 a

Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf den Berg. Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm. Und er öffnete seinen Mund, er lehrte sie und sprach:
Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.
Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen.
Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel.

 


Ansprache Allerheiligen 2020:

Wie groß ist wohl die Stadt „Allerheiligen“? Wieviel Einwohner hat sie?
Hier ist ein Stadtplan von Mönchengladbach. Und ich wage eine These: Gleich, ob im Eicken oder in Neuwerk, ob im Westend oder in Rheydt oder in Odenkirchen: In allen Straßen, in allen Wohnungen leben heilige und heiligmäßige Menschen. Unglaublich? Es ist wohl die Frage zu klären, wann jemand heilig ist. Und wer definiert und entscheidet über Heiligkeit? Es wäre doch wohl zu kurz gegriffen, wenn das einzige Kriterium ein mit Siegel bestätigtes Dokument der kirchlichen Behörde in Rom wäre. Besiegelt und beglaubigt: Heilig ist…..

In der Stadt „Allerheiligen“ geht es menschlich zu; Heilige sind Menschen. Eine kleine Einschränkung: Heilige sind Menschen, denen bewusst ist, dass es nicht darauf ankommt, etwas zu werden, sondern jemand zu sein. Heilige sind Menschen, die um die Quelle wissen, die die eigene Persönlichkeit stärkt. Jeder und jedem, der in dieser Stadt wohnt, mag sie nun „Allerheiligen“ heißen oder Mönchengladbach oder wie auch immer, ist eine unverwechselbare Veranlagung zu einer Heiligkeit in die Seele hineingelegt, die sich entwickeln kann. Der Mensch kann sich entwickeln, weil das Samenkorn der Heiligkeit in ihm liegt. Heilige, das sind Menschen, die gleichen einer blühenden Rose mitten im November, einer leuchtenden Farbe mitten in der Nacht; Heilige, das sind Freunde und Freundinnen in der Not; Heilige sind das immerwährende „Trotzdem“, wenn alle anderen „aber“ sagen. Heilige verkörpern das Ungewöhnliche in einer gewöhnlichen Welt. 

Eine gewöhnliche Welt verliert den Blick für den einzelnen, für das Schicksal eines Menschen. Eine gewöhnliche Welt muss funktionieren. Eine gewöhnliche Welt hält sich an Regeln und Dogmen fest. Aber keine Regel und kein Dogma darf zu einem Selbstläufer werden. Denn Heilige, also wir Menschen wollen leben nicht aus den Erinnerungen an eine Retrospektive sondern aus den Hoffnungen einer Perspektive. 

Wenn ein Mensch unter der Last einer Regel oder eines Dogmas zuschanden kommt, wenn er seine Menschlichkeit verliert dadurch, dann hat die Regel und das Dogma hinter den Menschen zurückzutreten. Heilige sind Menschen, die zuerst den Menschen im Blick haben und dann erst das System. Heilige haben ein Herz. Das ist wohl das, was sie von anderen unterscheiden. Heilige haben ein Herz, das bluten kann. Systeme sind jeder Fähigkeit beraubt, heilig zu sein, nur Menschen mit Fleisch und Blut sind der Heiligkeit fähig. Von einer, sagen wir beispielhaft, heiligen Kirche zu sprechen ist deshalb ein Widerspruch in sich, denn selbst, wenn Kirche die Gemeinschaft der Glaubenden ist, so ist sie doch auch ein System, eine verfasste Institution. Und als Institution ist sie bei aller Zugewandtheit immer auch ausgrenzend. Eine Institution wie die Kirche hat gewiss die Verpflichtung, die Menschen zu lehren; aber alles Lehren hat immer nur dienenden Charakter. Wir stehen – sagen wir es, wie es ist – als Kirche mit dem Rücken zur Wand, weil wir mit Händen und Klauen Vergangenes zu verteidigen versuchen, statt Zukünftiges zu erwarten. Kräfte in der Kirche bündeln gerade all ihre Kräfte, sich als Garant in der Vergangenheit gewachsener Traditionen zu erweisen, weil sich bis heute in den Köpfen der Gralshüter der Irrtum hält, Menschen seien ihr Besitztum. Aber damit liegen sie natürlich falsch, Menschen sind der Schatz der Kirche. 

In den letzten Jahren, nach der wissenschaftlichen Lähmung in der Zeit der Herren Wojtyla ,und Ratzinger, hat sich die Wissenschaft emanzipiert und eine Theologie der Menschlichkeit entwickelt, eine Theologie, die der Lehre der Kirche die Möglichkeit gibt, das zu lehren, was ihr eigentliches Potential ist: den Menschen zu offenbaren, was sie sind: Schätze nämlich. Schätze, die Gott in diese Welt hinein entsandt hat, um diese Welt heiler zu machen, heiliger zu machen, menschlicher zu machen. Heilige sind Menschen, die die Welt menschlicher machen. 

Mönchengladbach hat ungefähr 260.000 Einwohner. Die Stadt „Allerheiligen“ hat sicher weitaus mehr. Wir leben hier und wir leben dort. Wir leben in der Realität der Stadt Mönchengladbach und wir leben in der Realität der vorausschauend geschenkten Heiligkeit Gottes. Wir dürfen das Bindeglied zwischen beiden Städten sein, damit die eine Stadt immer mehr wird, was die andere schon ist: menschlicher.