Lesung: 1. Johannes 3,1-3
Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt.
Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
Und jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist.
Evangelium: Mt 5,-12a
Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf den Berg. Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm. Und er öffnete seinen Mund, er lehrte sie und sprach:
Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.
Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen.
Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel.
Ansprache Allerheiligen 2022:
Hat einer von Euch schon einmal ein vierblättriges Kleeblatt gefunden? Bekanntlich soll es ja Glück bringen. Ist uns dabei aber eigentlich bewusst, dass ein solches vierblättriges Kleeblatt in der Biologie als eine Fehlform angesehen wird, dass es eine Mutation, also eine Abweichung von der normalen Form ist, die bekanntlich dreiblättrig ist? Wir suchen also unser Glück, in einer Pflanze, die dezidiert von der Norm abweicht. Mir macht dieser Gedanke Freude. Das aus dem Rahmen fallende tut gut. Oder noch deutlicher formuliert: Stereotypen mag es geben, muss es ganz sicher auch geben, aber das Außergewöhnliche, das oft auch voreilig als minderwertig Bezeichnete, macht Leben anregend, aufregend, eigentlich erst richtig lebendig.
Eine normale, gewöhnliche, uns vertraute Welt verliert den Blick für das Besondere, Eigenartige. Eine gewöhnliche Welt funktioniert zweifelsohne, aber steht doch in der Gefahr, sich selbst zu genügen und das Einzigartige zu übersehen. Eine gewöhnliche Welt hält sich an Regeln und Dogmen fest. Aber keine Regel und kein Dogma darf zu einem Selbstläufer werden, weil nämlich dann verloren geht, was die Schöpfung Gottes so groß und wunderbar macht: das Einzigartige, das, was man nicht kopieren, vervielfältigen kann.
Ich war in der vergangenen Woche eingeladen, an einer Fachtagung teilzunehmen, die das Leben von Trans- und Intergeschlechtlichen Menschen achtsam in den Blick zu nehmen bemüht war; Menschen also, die aus dem vertrauten zweigeschlechtlichen Korsett herausfallen, das den meisten von uns wohl vertraut ist und worüber hinauszudenken uns schwerfällt. Dabei vergessen wir, dass ca. 2,5-3% der Bevölkerung eben nicht in dieses Korsett der vertrauten Zweigeschlechtlichkeit hineinpassen. In unserem Land leben ungefähr 2,5 Millionen Menschen, die sich nicht selbstverständlich angesprochen fühlen, wenn jemand sagt: „Guten Abend sehr geehrte Damen und Herren“ oder „Liebe Schwestern und Brüder“, und die doch dazugehören, auch zu unserer Kirche und auch zu unserer Gemeinde. Zumeist sind sie unsichtbar; Angst, Scham, verletzende Erfahrungen drängen sie dazu, in der Verborgenheit zu leben.
Und um jetzt auf das Bild des Kleeblattes zurückzukommen: Könnten Sie sich vorstellen, dass gerade diese Abweichung von dem, was wir normal nennen, uns Glück bringen könnte, aus der religiösen Perspektive müssten wir wohl sagen: Heil. Heilung; Heiligkeit? Uns als Kirchengemeinde, uns als Christ*in, die wir uns mühen, nach dem Bild und Willen Gottes zu leben, dürfte nicht fremd sein, was – global gesprochen – der Welt befremdlich erscheint? Ich erinnere an meine anfänglichen Gedanken: hinter jedem Wunder des Lebens stehen einfache Menschen, die viel zu oft übersehen werden. Ohne die Beharrlichkeit, ohne den mutigen Eifer jener Menschen, die uns immer wieder daran erinnern, dass wir den Blick für das Ungewöhnliche nicht verlieren dürfen; ohne die Stimmen der wenigen, die sich Gehör zu verschaffen versuchen in einer Welt der Schreihälse, werden wir nie erfahren können, in welche Nischen des Lebens Gott sein Heiliges gelegt hat.
Mir haben die Begegnungen in der vergangenen Woche unendliches Glück geschenkt. Raphaela zum Beispiel erinnerte mich in ihrem Wortbeitrag daran, dass es brandgefährlich ist, zu behaupten, ich wisse, wie Gott sich den Menschen gedacht habe, nämlich so, wie das Lehramt der Kirche es vorgibt. Und dann sagte sie wörtlich: „Ihr irrt euch, wenn ihr meint zu wissen, wer ich bin und wer Gott ist.“ Das hat mich sehr getroffen und berührt, denn ich weiß doch wirklich nicht, wer der Mensch ist, der mir gegenübersteht; ich kann ihm – wie man so schön sagt – nur vor die Stirn schauen - und ich bin abhängig davon, wie viel Vertrauen er/sie mir schenkt und was er/sie von sich zeigt. Und ich wäre doch geradezu überheblich, wenn ich mein Bild von Gott verfestigen würde und sagen würde: So ist Gott, so und nicht anders. Heißt es doch schon in Geboten: „Du sollst dir kein Bild machen von Gott“. Ist nicht schon eine Einengung Gottes, wenn wir uns bekreuzigen und sagen: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“?
Ich weiß, dass dieser Gedanke manchen vielleicht ungewöhnlich erscheint, womöglich schütteln einige sogar den Kopf. Ich mute mir selbst und Euch aber genau diesen Gedanken zu am Fest Allerheiligen:
Ist nicht genau das heiligwürdig, was mir den Blick auf das Leben, auf Gott und die Menschen weitet? Was mir vor Augen führt, dass nicht das Festhalten an Bestehendem den Weg zu Gott und zu den Menschen bereitet, das Festhalten an Strukturen und tradierten Überzeugungen, sondern die Ahnung davon, dass mir die eigene Kindschaft Gottes erst dann gewahr wird, wenn ich in dem/ in der ein Kind Gottes erkenne, den/ die ich als anders, andersartig, wahrnehme? So, wie auch Gott immer anders ist und eben auch Mutter, und Tochter und Geistin.
Wir feiern heute das Fest „Allerheiligen“. Vielleicht eine Gelegenheit, sich einmal Zeit zu nehmen das Heilige und die Heiligen genau dort zu suchen, wo wir es nicht vermuten.