Evangelium: Mk 13,33-37:
Gebt Acht und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen: Er übertrug die Vollmacht seinen Knechten, jedem eine bestimmte Aufgabe; dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!
Ansprache
Wach waren sie auf jeden Fall, weil, die Musik, die sie hörten, erlaubte nach menschlichem Ermessen kein Einschlafen. Ich hab sie schon von weitem gehört; wie übrigens die letzten Tage fast jeden Abend. Ihr Auto steht am Ende der Straße, da, wo die Fahrbahn abrupt in den Feldweg übergeht, der dann schnurstracks auf die Rur zuläuft. Da ist kein Autoverkehr mehr und es verirren sich um diese Zeit nur ein paar Fahrradfahrer dorthin, oder eben Hundebesitzer, wie ich einer bin. Zwei Jugendliche sitzen in ihrem Auto – oder vielleicht ist es auch der Wagen von Papa -und hören Musik. Was bleibt ihnen auch sonst, ihr Jugendclub hat zu und sich irgendwo mit der Clique treffen geht auch nicht. Also sitzen die beiden Kumpel jetzt abends zu zweit im Auto und hören ihre Musik. Und sie warten; warten darauf, dass irgendwann das Leben wieder sein wird wie früher.
Ich glaub, da sind die beiden nicht allein. In Begegnungen der letzten Tage und Wochen höre ich immer diese Erwartung: ‚Wenn dann endlich der Impfstoff in ausreichender Menge da ist, dann ist der Spuk vorbei und alles wird wieder sein, wie es früher war.‘ Hoffen Sie auch darauf, dass möglichst bald wieder alles wieder wird wie früher?
In dem Moment, wo wir gerade miteinander sprachen – ich hab sie nämlich angesprochen, die beiden jungen Männer - flog eine Formation von Graugänsen über uns hinweg. „Boah, guck mal“, stupste der eine Jugendliche den anderen an. Über uns kreischten die Vögel und als wir drei zum Himmel schauten, beobachteten wir, wie ein Pfeil, wie von Hand gemalt, über uns hinwegflog. In diesem Moment war zu spüren, wie aus dem wach bleiben aus Langeweile, eine staunende Wachsamkeit erwuchs.
Darauf warten, dass das Vertraute einen wieder begleitet und dann unerwartet die Erfahrung machen, dass es anderes gibt als das Vertraute. Das ist schon eine tolle Erfahrung.
Die beiden Jugendlichen sind, und das war vielleicht ein Zufall, weil ich sie angesprochen habe, ausgestiegen. Die beiden Seitentüren des Wagens standen zwar weit offen, aber sie hatten die Rückenlehnen der Vordersitze ein wenig zurückgeschraubt und lagen also da, so ähnlich wie wohl in ihren Clubsesseln in dem Jugendzentrum. Jetzt sind sie also ausgestiegen und standen neben dem Wagen. Und ich hab mich in dem Moment gefragt, woraus sie noch ausgestiegen sind? Vielleicht aus ihrer Langeweile, die ihnen auferlegt ist durch die Corona-Schutzverordnungen, vielleicht aber auch aus ihrem selbst auferlegten Alltagstrotts, an den sie sich gewohnt hatten und der ihnen verwehrte, die Wunder unserer Schöpfung mit Staunen wahrzunehmen.
Für keinen von uns ist diese Zeit im Augenblick leicht; die Einschränkungen bürden uns Verzicht auf, Einsamkeit und eine Unmenge von Fragen. Zudem ist es nicht immer einfach, ganz auf sich allein zurückgeworfen zu sein, gerade für junge Menschen nicht, denen Mobilität das Selbstverständlichste von der Welt ist. Es sollte also keinen verwundern, dass wir uns nach einem gewohnten Alltag sehnen. Und dennoch: Diese Zeit des Advent 2020 möchte uns einladen, nicht nur das Vertraute und Gewohnte zurück zu ersehnen, sondern das Unverhoffte zu erwarten. Vielleicht gelingt es uns ja, diese für Jung wie für Alt außergewöhnliche Zeit als Atempause zu erkennen, auszusteigen und den Graugänsen nachzuschauen, die sich aufmachen zu neuen Lebensorten.
Christoph Simonsen