Ansprache von Christoph Simonsen zum 32. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr B

Datum:
So. 7. Nov. 2021
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

Lesung aus dem Buch der Könige (1 Kön 17, 10-16)

Elija machte sich auf und ging nach Sarepta. Als er an das Stadttor kam, traf er dort eine Witwe, die Holz auflas. Er bat sie: Bring mir in einem Gefäß ein wenig Wasser zum Trinken! Als sie wegging, um es zu holen, rief er ihr nach: Bring mir auch einen Bissen Brot mit! Doch sie sagte: So wahr der HERR, dein Gott, lebt: Ich habe nichts mehr vorrätig als eine Handvoll Mehl im Topf und ein wenig Öl im Krug. Ich lese hier ein paar Stücke Holz auf und gehe dann heim, um für mich und meinen Sohn etwas zuzubereiten. Das wollen wir noch essen und dann sterben. Elija entgegnete ihr: Fürchte dich nicht! Geh heim und tu, was du gesagt hast! Nur mache zuerst für mich ein kleines Gebäck und bring es zu mir heraus! Danach kannst du für dich und deinen Sohn etwas zubereiten; denn so spricht der HERR, der Gott Israels: Der Mehltopf wird nicht leer werden und der Ölkrug nicht versiegen bis zu dem Tag, an dem der HERR wieder Regen auf den Erdboden sendet. Sie ging und tat, was Elija gesagt hatte. So hatte sie mit ihm und ihrem Haus viele Tage zu essen. Der Mehltopf wurde nicht leer und der Ölkrug versiegte nicht, wie der HERR durch Elija versprochen hatte.

 

Evangelium nach Markus (Mk 12,38-44)

Jesus lehrte die Menschenmenge und sagte: Nehmt euch in Acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern umher, lieben es, wenn man sie auf den Marktplätzen grüßt, und sie wollen in der Synagoge die Ehrensitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben. Sie fressen die Häuser der Witwen auf und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete. Umso härter wird das Urteil sein, das sie erwartet.

Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.

 

Ansprache

Wir begegnen heute in den Schriftworten zwei wunderbaren Frauen. Ich hege großen Respekt vor diesen beiden vom Leben so sehr gezeichneten Witwen, die in achtungsvoller Verantwortung ihr Leben in die Hand nehmen und gestalten und trotz aller Beschwernis den Blick für den anderen nicht verlieren. Das ist gelebter Glaube, trotz der Enge im eigenen Leben, anderen Menschen Weite zu ermöglichen und eine neue Lebensqualität zu schenken.

 

Ich möchte uns einladen, dass wir uns die Situation einmal so konkret als möglich vor Augen führen, was da an dem Stadttor in Sarepta passiert ist: Da ist eine erkennbar armselige Frau, eine Frau, die sich dem Tod näher als dem Leben fühlte, in sich gekehrt, in Angst um ihren Sohn. Eigentlich hätte Elija sehen müssen, dass diese Frau am Ende war; wie sollte sie, die so mit dem Leben haderte, noch die Kraft aufbringen, ihm zu trinken und zu essen zu geben? Trotzdem spricht er sie an. Man könnte meinen, das sei geradezu taktlos.

 

Ich kann diese Situation, aber auch ganz anders deuten und interpretieren. Wir sind Augen- und Ohrenzeugen eines bedeutsamen Rollentausches: Der Prophet, der Weise, der Gesandte Gottes offenbart sich gegenüber der Witwe als Bittsteller und vertraut, hofft, glaubt, dass die, die nichts hat, etwas für ihn erübrigen kann. Er, der Prophet, hat der Frau, die keine Erwartungen mehr an das Leben hatte, weil ihr die Lebensgrundlagen entzogen waren, zugetraut, ihm etwas zu geben, dass ihn satt macht.

 

Ich möchte Euch und Ihnen von einem Mann erzählen, der uns regelmäßig in der Citykirche besuchen kommt. Ein Mann, der früher Drogengebraucher war, heute das Ersatzmedikament Methadon erhält und medinisch betreut wird. Diese Zeit der Abhängigkeit ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen.  Er ist im wahrsten Sinn des Wortes ein gebeugter Mensch. Das Leben auf der Straße ist hart und erbarmungslos, seine Knochen tun ihm weh und eine offene Wunde will und will nicht so richtig heilen. Immer wieder muss er ins Krankenhaus.

Ein oder zweimal die Woche besucht er uns in der Citykirche und bittet um ein paar Euro, um den Pflichtanteil für seine Rezepte bezahlen zu können.

Er hätte allen Grund, sich aufzugeben, so wie die Witwe aus Sarepta. Wo und wie kann in solch einer Lebenssituation eine neue Lebensperspektive aufblühen? Was kann dieser gebeugte Mann für sein Leben noch erhoffen?

 

Ich bewundere diesen Mann, dem ich vielleicht mit ein paar Euro über den Tag helfen kann; aber vielmehr fühle ich mich als der Beschenkte, wenn er mir – und auch den Jungs in der Citykirche, die mit mir dort arbeiten – aus seinem Leben erzählt, wie er Tag für Tag den Herausforderungen standhält und – man mag es nicht glauben – für jeden Tag, den er lebt, dankbar ist.

 

Und dann lernen wir heute noch eine Witwe kennen. Von dem wenigen, das sie hat, gibt sie großzügig. Jesus stellt diese einfache Frau denen gegenüber, die selbstgewiss und selbstherrlich durch ihr Leben schreiten und der Überzeugung anhängen, sie wären deshalb Gott näher, weil sie die Gebote halten und ihren Glauben so offensichtlich präsentieren.

 

Mir sind Menschen suspekt, die meinen, sie wären die wahren Christ*innen und hätten das Recht, ja sogar die Pflicht, den Glauben anderer zu beurteilen und zu bewerten. Anstatt den eigenen Glauben zu verabsolutieren, ist doch tatsächlich erst der Christ und die Christin, die sich von der Glaubenssuche anderer inspirieren und in Frage stellen lassen. Kirche ist ein heiliger Ort – aber eben doch mitten in der Welt und die Welt ist Gottes Welt. Nichts braucht es weniger als einen belehrenden Glauben; was es braucht: einen Glauben des gemeinsamen Lernens. Ist Gott ist der ‚Mit-uns-Gehende‘. Oder ist er auch die ‚Mit-uns-Gehende‘? Die Frage nach Gott hält mich lebendig, weckt meine Neugierde, ihn gerade da zu erahnen, wo ich es nicht erwarte.

 

Jugendliche des BDKJ zum Beispiel haben gerade eine spannende Diskussion ausgelöst. Sie schlagen vor, den Namen „Gott“ mit einem * zu versehen, um auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen, dass die Einengung darauf, Gott sei männlich, nicht nur Gott selbst beeinträchtigt in seiner Größe und Ursprünglichkeit, sondern auch eine Wertigkeit für alles Weibliche nach sich zieht. Nur gut, dass Elija und Jesus zwei Frauen beispielhaft uns vor Augen führt, wie Gottes Ebenbildlichkeit in unserer Welt sichtbar und spürbar wird.

 

Ich bin den Jugendlichen für diese Gedankenanregung sehr dankbar, lädt diese mich doch neu ein, nach Gott zu fragen und weckt in mir eine tiefere Unruhe, mir Gottes nie zu gewiss zu werden. Ja, Gott bleibt eine lebenslange Frage. „Oft suchen wir Gott dort, wo wir ihn gern hätten und nicht dort, wo er auf uns wartet“, so sagte einmal der verstorbene Jesuitengeneral Pedro Arrupe. In aller Vertrautheit, die uns betend Gott näher bringen darf, erweisen mir – und ja vielleicht auch Ihnen – die beiden Witwen einen Glaubensdienst: sie erinnern uns daran, dass wir Gott dann am tiefsten und innigsten anbeten, wenn wir ihn im anderen zu entdecken bemüht sind.