Evangelium: Markus 1,21-28
Sie kamen nach Kafarnaum. Am folgenden Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte. Und die Menschen waren sehr betroffen von seiner Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten. In ihrer Synagoge saß ein Mann, der von einem unreinen Geist besessen war. Der begann zu schreien: Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazaret? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes. Da befahl ihm Jesus: Schweig und verlass ihn! Der unreine Geist zerrte den Mann hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei. Da erschraken alle und einer fragte den andern: Was hat das zu bedeuten? Hier wird mit Vollmacht eine ganz neue Lehre verkündet. Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl. Und sein Ruf verbreitete sich rasch im ganzen Gebiet von Galiläa.
Ansprache: Von meiner Besessenheit
Ich bin besessen. Ich bin besessen von der Überzeugung, ich sei ich; ich sei authentisch; ich sei immun gegen Beeinflussung; ich sei frei von Meinung, von Stimmung. Aber das ist nicht wahr.
Aber das stimmt nicht. Ich bin nicht ich; ich bin der Fremde in mir. Ich bin ein Konglomerat der Vielen, die mir einreden, was wahr, was richtig, was gut ist.
Ist da bitte irgendjemand, der mich befreit, der mir behilflich ist, mich selbst wiederzufinden? Ist da bitte jemand, der mir den Respekt vor mir selber zurückgibt, der mir den Glauben an meine Fähigkeiten, meine Begabungen, meine Lebenserfahrungen zurückschenkt? Ist da jemand, der mir nicht vorgibt, was ich zu denken, zu sagen und zu fühlen habe? Adel Tawil hat Recht, wenn er singt „Ist da jemand, der mein Herz versteht, und der mit mir bis ans Ende geht? Wenn ich selber nicht mehr an mich glaub, ist da jemand?“
Ich kann das gut überspielen, aber tief im Innern macht es mich krank: Ich bin tatsächlich nicht "ich", auch wenn ich mich nach außen hin so zeige und bewege, als sei ich "ich". Vielmehr bin ich "er"; Was von mir sichtbar ist, ist Schein. Was ich als "ich" darstelle, sind eigentlich die Gedanken anderer: die Einflüsterer und Zuflüsterer, die es schaffen, sich immer wieder in mich hinein zu bohren; die mich zur Hülle machen, damit sie unantastbar und unangreifbar werden und damit das unantastbar wird und unangreifbar bleibt, was sie in mich hineingestopft haben. Sie haben mich zum Filter verformt, damit nicht verunsichert wird, was von ihnen durch mich so zielorientiert und selbstbewusst in die Welt hinausposaunt werden soll.
Ich bin schon längst nicht mehr ich, sondern "er"? Oder bin ich sogar schon "es"? Ich bin nur noch das, was in mich eingeflossen ist und was andere mir eingeflößt haben. Ich bin eigentlich gar nicht mehr Persönlichkeit, sondern nur noch Können und Wissen? Ich bin Speicherkarte, nicht mehr Fleisch und Blut und Herz. Ich bin vielleicht widerlegbar, aber nicht mehr verletzbar. Gibt es mich eigentlich überhaupt?
Ob "Er", der Besessene, sich diese Frage auch gestellt hat; dieser Besessene, von dem wir eben im Evangelium gehört haben? Ob diese Angst vor der eigenen Nicht-Existenz ihn hat aufschreien, rebellieren lassen gegen sich selbst und gegen alle, sogar gegen Gott; diese Angst, nur deshalb zu sein, weil andere das ihrige in ihn hineingestopft haben? Wer sich so verloren hat, der hat nichts mehr zu verlieren. Wenn der letzte Funke Selbstachtung weg ist, dann ist Leben nur noch grausam.
Was ich Euch hier zuspreche erscheint überspitzt, sarkastisch, unrealistisch. Wir können doch alle unterscheiden zwischen „Du“ und „ich“, zwischen eigener und fremder Meinung. Wir haben uns doch alle im Griff, wir wissen und wir spüren, wann wir uns selbst verlassen und anderen überlassen haben. Aber ich frage euch aus eigener Erfahrung heraus: Wissen wir das wirklich? Sind wir wirklich „Frau“ und „Herr“ unserer selbst? Erkennen wir wirklich noch, wann wir die Meinung der beflissenen Mehrheit von uns geben oder unsere eigene, persönliche Meinung? Mir selbst muss ich eingestehen, dass ich da sehr achtsam sein muss. Sich selbst zu übereignen passiert schneller, als man glauben mag.
Und dann stand "er", der Besessene, "ihm" gegenüber, "ihm", der ihn nicht noch weiter zugestopft und zugemüllt hat, sondern das gegeben hat, was einzig den Menschen zum Menschen macht. "Er" hat sich gefunden und "er" konnte endlich - vielleicht zum ersten Mal "ich" sagen, weil einer ihm Selbstachtung geschenkt hat. Da stand ihm einer gegenüber, der unmissverständlich Vertrauen, Zuneigung geschenkt hat, Achtung zur Selbstachtung geschenkt hat.
Ich möchte diese Erfahrung machen, die "er", der Besessene gemacht hat. Dass einer "Du" sagt, damit ich "ich" sagen kann. Dann, das ahne ich, werde ich über mich selbst erstaunt sein und die anderen werden nicht weniger erstaunt sein. Und diesem Staunen können große Taten folgen.
Bei aller Vorsicht dessen, was ich jetzt sage: Ich will keine Experten mehr sehen, nicht in den Talkshows und auch nicht in meiner direkten Umgebung. Ich will Menschen er-leben. Menschen, die für das, was sie sagen, als Person einstehen. Menschen, die wahrhaftig und glaubwürdig sind aus sich heraus und die berichten, was niemand sonst berichten kann, nämlich von sich und ihren Lebenserfahrungen. Ich will angesprochen werden und betroffen sein. Ich will ein Gegenüber spüren, ergriffen sein, überwältigt werden von Menschlichkeit, hineingenommen werden in das Leben eines Anderen. Ich will reicher werden an Lebenserfahrungen und reicher an Wahrheit, einer Wahrheit jenseits von Allgemeingültigkeit. Ich weiß, dass es schwer ist, eigene persönliche Erfahrungen offen nach außen zu tragen. Jedoch geben gerade sie dem Leben Gewicht. In stürmischen Zeiten werden sie zum Anker und verhindern, dass ich zum Leichtgewicht werde, den Böen des Lebens ausgeliefert. Ich möchte meine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen, und ich will ihre Erfahrungen mittragen.
Ich will Mensch werden mit Träumen und Ängsten, mit Glauben und Zweifel. Ich will ich selbst werden. So werde ich Zeuge für Gottes Gegenwart in unserer Welt.
Christoph Simonsen