Ansprache von Christoph Simonsen zum Karfreitag 2021

Datum:
Fr. 2. Apr. 2021
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

Karfreitag 2021

 

Gott ist tot. Ich weiß um Menschen, die tief in ihrem Herzen schmerzhaft zu dieser Erkenntnis genötigt wurden. Gläubige Menschen, denen der Glaube gewaltsam entrissen wurde. Menschen, die wegen ihres Glaubens von den Unmenschen des Naziterrors der Vernichtung preisgegeben wurden. Denen nicht nur ihr Leben, sondern ihre Hoffnung und ihr Glaube genommen wurde in den Konzentrationslagern von Auschwitz und Dachau. Gott ist tot. Wie könnte es einen Gott geben, der solch unbeschreibliche Grausamkeit zulässt, wie sie in der Nazidiktatur geschehen ist? Ich bin so dankbar, dass wir gerade heute diese wunderbare Musik hören, die so eindringlich und herzberührend  unsere Verbundenheit mit unseren jüdischen Geschwistern dokumentiert. Unsere älteren Geschwister, die mit ihrem Glauben der Geschichte trotzen.

Gott ist tot. Ich weiß um Menschen, die diese Erkenntnis als einen befreienden Gedanken für sich entdeckt haben. Die ihren Glauben als Einengung erfahren haben, weil er ihnen mehr Verbote erteilt hat als Lebensermöglichungen. Gott ist tot. Wie könnte es einen Gott geben, der die Freiheit des Menschen einengen würde und die Liebe unter Strafe stellte, einzig weil sie einem Gegenüber galt und nicht einem Zweck untergeordnet ist?

Gott ist tot. Ich weiß um Menschen, die diese Überzeugung deshalb hegen, weil sie damit dem Menschen einen Dienst erweisen wollen. Der Mensch sei seines Glückes Schmied; Gerechtigkeit sei eine Tugend, die einzig aus der Willenskraft des Menschen erwachsen kann. Gott ist tot. Hat jemals ein Mensch den Beweis erbringen können, dass Gott am Schicksal der Welt liegen würde?

Gott ist tot. Ich weiß um Menschen, die Gott zu Tode verehrt haben, die Gott so sehr in den Himmel loben, dass er auf Erden keinen Raum mehr zum Atmen hatte. Die Gott so sehr anhimmeln, dass er sich in unerreichbare Sphären verkrochen hat. Gott ist tot. Man kann Gott auch durch erdrückende Umarmungen die Luft zum Leben nehmen.

Gott ist tot. Ja er ist tot. Er starb am Kreuz der Selbstgerechten und Machthungrigen. Er wurde tot-gelacht, tot-geleugnet, tot-geliebt, tot-gefoltert, tot-gekreuzigt. Ja, Gott ist wirklich tot.

All diese Überzeugungen, all diese Gedanken, all diese menschlich vielleicht sogar nachvollziehbaren Wahrheiten könnten aber auch zu einer anderen Einsicht führen, einer Einsicht, die hoffen lässt, die glauben möglich macht, die dem Leben Sinn schenkt in aller - zweifelsohne oft nicht zu leugnenden - Sinnlosigkeit:

Gott ist nicht tot; nein: Gott ist im Tod. Gott geht in den Tod hinein, um den Tod seiner Endgültigkeit zu berauben. Er geht in den Tod hinein, er geht in die Absolutheit des Sinnlosen hinein, er geht in die Schicksalhaftigkeit alles Unmenschlichen hinein; er taucht ein in das Nichts, um sich mit allen zu verbinden, denen das Leben zum Nichts verkommen ist. Gott solidarisiert sich mit dem Nichtigen. Und diese Solidarität zeigt sich ungeschönt, qualvoll an dem Kreuz, das wir gleich zu verehren eingeladen sind. In diesem Kreuz ist Heil, in diesem Kreuz zeigt sich unsere Zukunft. Das zu verstehen, kann uns der Glaube helfen. In der Solidarität Gottes mit dem Vergänglichen liegt der Keim der Hoffnung, die Wurzel des neuen Lebens.