Ansprache zum 03.September 2023

Datum:
So. 3. Sept. 2023
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

Evangelium nach Matthäus (Mt 16,21-27)

Von da an begann Jesus, seinen Jüngern zu erklären: Er müsse nach Jerusalem gehen und von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten vieles erleiden, er müsse getötet und am dritten Tag auferweckt werden. Da nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen, und sagte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! Jesus aber wandte sich um und sagte zu Petrus: Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.

Darauf sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden. Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen? Der Menschensohn wird mit seinen Engeln in der Herrlichkeit seines Vaters kommen und dann wird er jedem nach seinen Taten vergelten

Ansprache:

Ich befürchte, dass ich mich heute gleich zu Beginn entschuldigen muss, denn es kann sein, dass ich heute etwas ausführlicher meine Gedanken zum Evangelium ausbreite und es daher etwas länger wird. Das ist sicher nicht der Tatsache geschuldet, dass ich drei erholsame Wochen hinter mir habe und ich viel Zeit zum Nachdenken hatte. Der Grund dafür liegt vielmehr in der Ausstellung, die uns John Barrawasser in die Citykirche hineingetragen hat in Erinnerung an die Zerstörung der damaligen Hauptpfarrkirche Mariä Himmelfahrt vor 80 Jahren.

Heute, 80 Jahre nach der Zerstörung unserer Stadt träumt eine rechtsradikale Partei davon, eine Regierung bilden zu können. Und das ist auch leider auch der Tatsache geschuldet, dass unser Christsein sich in die privaten Gemächer zurückgezogen hat und die öffentliche Relevanz unserer Kirche aus eigenem Verschulden gegen Null geht. Es braucht heute einen politischen Glauben, einen Glauben, der sich allem Menschenverachtenden entgegenstellt.

Ihr kennt das biblische Wort, dass es eine Zeit zu reden gäbe und eine Zeit zu schweigen. Mir ist heute nach beidem zugleich zumute, so paradox das klingen mag. Mir ist heute danach – im Blick auf das, was wir hier in der Citykirche sehen –  zu schweigen. Denn es gibt einfach keine Worte angesichts des unendlichen Leids so vieler Menschen, die in diesen Tagen vor 80 Jahren ihr Leben lassen mussten, zumindest aber all ihr Hab und Gut. Die Bilder, die das wahnsinnige Ausmaß der Zerstörung zeigen, können nur einen Bruchteil dessen vermitteln, was an menschlichem Elend damit verbunden war. Die Namen der Toten, deren Existenz John dank akribischer Suche in verschiedenen Archiven entdeckt hat und die hier zu sehen sind, wie auch die vielen, deren Namen vergessen sind: Sie alle mögen jetzt den Schutz erfahren, der Ihnen 1943 nicht gegeben war. Viele von Ihnen und Euch ist diese Zeit noch viel näher als mir.

Aber genau deswegen ist es mir so wichtig, heute auch zu reden. In meinen Urlaubstagen habe ich noch einmal das Buch der aus Mönchengladbach stammenden Journalistin Nora Hespers gelesen. Einige erinnern sich vielleicht, dass sie vor zwei Jahren aus ihrem Buch hier in der Citykirche vorgelesen hat. „Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich“, so hat sie ihre Aufzeichnungen betitelt. Ihr Opa, das ist Theo Hespers, der als Widerstandskämpfer von den Nazis 1943 zum Tode verurteilt und erhängt wurde. Mit großer Leidenschaft hat die Enkelin sich in das Leben ihres Opas vertieft. Immer wieder verweist sie darauf, dass die Gräuel der Nazis vor allem deshalb geschehen konnten, weil man sie schlicht gelassen hat. Man hat die Anfänge des Regimes in der Gesellschaft und der Politik nicht ernst genommen; das zarte Pflänzchen Demokratie der Weimarer Republik ist am Ende nicht stark genug gewesen. Die Bürgerinnen und Bürger im Land haben doch die starke Hand gesucht und dann unüberlegt das entsetzliche Spiel des Suchens nach Sündenbocken mitgespielt. Adolf Hitler selbst hat einmal zugestanden, er hätte die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln zur Strecke gebracht. So ist es ihm gelungen, den unbedarften Bürger*innen einzuflößen, dass er die Schuldigen gefunden hätte, die verantwortlich seien dafür, dass das Land wirtschaftlich angeschlagen war. Ich halte Parallelen zu unserer heutigen gesellschaftlichen Situation nicht für ganz abwegig.

Deshalb muss ich, müssen wir heute reden, nicht nur, um die Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern vor allem, um die Gegenwart kritischer in den Blick zu nehmen. Was damals schleichend begonnen ist, das kann sich auch heute wiederholen; und es wiederholt sich konkret auch schon wieder. Bernd Höcke, der Franktionsvorsitzende der AfD in Thüringen, wettert gegen die inklusiven Bemühungen im Schulwesen und macht Behinderte dafür verantwortlich, dass gesunde Schüler*innen nicht die ihnen zustehende Bildung erhalten. Die gleiche Partei wettert gegen Transmenschen und eine Frau von Storch beleidigt unverhohlen die einzige Transfrau im Deutschen Bundestag. Diese Partei spaltet bewusst unsere Gesellschaft und nimmt in Kauf, dass ihre Politik dazu führt, dass Hass und Gewalt fröhlich Einkehr halten in unserem  Land.  Und wenn eine christlich orientierte Partei, bzw. ihr Vorsitzender davon spricht, seine Partei sei die bessere AfD (Alternative für Deutschland) dann ist das nicht nur sprachlich völlig daneben, sondern saugefährlich.

Wer immer sich einem solchen Gedankengut anschließt, der wird irgendwann da landen, wo keine und keiner von uns enden möchte. Theo Hespers und seine Gefährt*innen haben mit ihrem Leben dafür gezahlt, dass sie vor dem Wahnsinn der Diktatur nicht die Augen verschlossen haben und schon den Keim der Unmenschlichkeit erkannt haben: Wer sich auf Kosten von Minderheiten selbst rühmen möchte und dazu Sand in die Augen der Menschen streut, dem ist mit allen Mitteln der Menschlichkeit entgegenzutreten und entgegenzuwirken.

Was ich hier sage, klingt nach einem politischen Plädoyer. Und ja, das ist es auch. Aber dieses Plädoyer fußt auf der Überzeugung, dass mein, dass unser Glaube nur dann Sinn macht und sinnstiftend ist, wenn er hineinwirkt in die polis, in die Stadt, in die Gesellschaft und Maßstäbe setzt für ein menschliches Miteinander. Und mein/ unser Glaube ist von der Ebenbildlichkeit Gottes überzeugt, die jedem Lebewesen zu eigen ist, denn sie ist allen von Anfang an von Gott geschenkt.

Deshalb ist mir der liebste Satz im heutigen Evangelium der Einwurf des Petrus: „Das soll Gott verhüten“. Mir scheint dieser Wunsch des Petrus so berechtigt, aber eben auch sehr fragwürdig. Berechtigt deshalb, weil er der menschlichen Sehnsucht Ausdruck verleiht, Gott würde alles Böse, Gewaltsame, Ungerechte aus der Welt räumen können; mehr als fragwürdig ist dieser Gedanke allerdings doch deshalb schon, weil er das größte und bedeutendste Geschenk Gottes an seine Schöpfung – das Geschenk des freien Willens  und der menschlichen Eigenverantwortung – ad absurdum führt. Petrus hat nicht verstanden,  dass Gott seiner Schöpfung Freiheit geschenkt hat und er – Gott selbst – diese Freiheit achtet. Deshalb unterwirft er sich und macht sich selbst in Jesus zum Opfer. Nur so vermag er zu verdeutlichen, um was es ihm geht: Der ganzen Schöpfung zu zeigen, dass es nur deshalb Opfer gibt, weil es auch Täter gibt. 

Jesus muss nach Jerusalem gehen und von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten vieles erleiden, und er muss getötet werden; Gott treibt in Jesus das „Täter-Opfer-Spiel, das wir Menschen spielen, auf die Spitze, um mit der Auferweckung zu versichtbaren, dass unser menschenverachtendes Spiel nur Tod nach sich zieht, Unglück und Tod. Aufgelöst werden kann diese Todesspirale nur, indem der absolute Wahnsinn dessen offengelegt wird. Deshalb durchbricht Gott diese Todesmaschinerie der Menschen, entlarvt die politische Macht eines Pilatus ebenso wie die religiöse Machtgier eines Herodes und stirbt in seinem Sohn Jesus.  Weil Menschen das Leben zu einem Spiel haben verkommen lassen, macht er ernst mit einer konsequenten Liebe.

Der nordamerikanische Bischof Strickland aus dem Bistum Tyler hat in der vergangenen Woche ein Hirtenwort veröffentlicht, in dem er im Voraus vor der beginnenden Weltsynode warnt, die in der Gefahr stünde, sich der Welt anzupassen. Er spricht darin vom Geschenk des Leidens, das Gott den Menschen auferlegt. So könnten die Menschen ein wenig von dem zurückgeben, was er uns in seinem Sohn geschenkt hat. Ich halte eine solche Interpretation des eben gehörten Jesuswortes für eine glatte Gotteslästerung. Gott hat doch die Schmach des Todes auf sich aufgenommen, um die Sinnlosigkeit des Tötens und des Unterwerfens in seiner größten Absolutheit sichtbar zu machen. 

„Sein Kreuz auf sich nehmen“, kann doch nicht bedeuten, sich des Leidens zu erfreuen, das einem das Leben auferlegt. Wie könnte es Gott in den Sinn kommen angesichts seines eigenen schweren Weges, den er in seinem Sohn auf sich genommen hat, den Menschen unnötigerweise Kreuze und Leid auf die Schultern zu legen? Welch ein verbittertes Lebensprinzip würde aus solch einem Gedankengut herausquellen? Das Ansinnen Gottes ist doch vielmehr, alles Leben miteinander in Beziehung zu bringen, und in diesem Bezogen sein aufeinander zu fragen und zu suchen, was Sinn macht im Leben. Wer diesen Sinn gefunden hat, in Beziehung zu leben, der findet die Kraft, aus leidenschaftlicher Liebe, auch Zeiten des Leidens auf sich nehmen. Sich selbst verleugnen, bedeutet dann eben nicht, sich selbst vergessen machen zu wollen; sich selbst verleugnen heißt dann: sich frei zu fühlen für offenherzige Beziehungen, in der nicht vorrangig das ‚ich‘ zählt, sondern das ‚wir‘. 

Theo Hespers hat dieses göttliche Prinzip verstanden und Freund*innen um sich geschart, sich gemeinsam gegen den Wahnsinn des Naziterrors zu stellen – und das schon sehr frühzeitig. Es ist ihm – leider Gottes – nicht gelungen. Um so mehr ist sein Vorbild für uns heute Mahnung und Auftrag, uns – um Gottes Willen – gegen alle und alles zu erheben, die sich erdreisten, das Bild des Menschen zu entstellen.