Es braucht Rufer*innen in der Wüste, ...

2.Advent-4 Kopie (c) J. Barrawasser
Datum:
Sa. 5. Dez. 2020
Von:
Christoph Simonsen

Es braucht Rufer*innen in der Wüste, die mit Macht ihre Stimme erheben. Der Prophet Jesaja erinnert die Menschen in Jerusalem daran.

„Macht“ ist heutzutage ein vieldiskutierter Begriff. Der Missbrauch von Macht vor allem, auch und gerade in unserer Kirche. Es ist gut, dass zutage tritt, was so lange verharmlost wurde; noch mehr: was so lange verschwiegen wurde. Das nämlich Menschen, denen Macht übertragen wurde, diese verwendet haben, um Menschen Schaden zuzufügen, körperlichen und seelischen Schaden.

 

In den vergangenen Tagen habe mich ertappt, als ich eine Mitteilung an die Presse herausgegeben habe und am Ende unterzeichnete mit ‚Pfarrer Christoph Simonsen‘. In dem Moment, als ich das in die Tasten des Computers tippte, fühlte ich eine merkwürdige innere Unruhe in mir aufkeimen. Der rechte Zeigefinger auf der Tastatur weigerte sich, die Mail zu versenden und auf die entsprechende Taste zu drücken. Ich las den Text noch einmal und dann, ohne zu überlegen, löschte ich die Berufsbezeichnung vor meinem Namen. Ich schickte die Mail ab, unterschrieben mit ‚Christoph Simonsen‘. Es braucht Rufer*innen in der Wüste; es braucht Menschen, die sich nicht auf Amt und Weihe, auf Ausbildung und Institution zurückziehen, sondern die ihr Menschsein zum Maßstab erheben.

 

Das möge nicht missverstanden werden, auch mein Menschsein befreit mich nicht vor Übeltäterei, aber es führt mir unmissverständlich vor Augen, dass ich verantwortlich bin für mein Denken, Reden und Handeln. Ich persönlich, ohne dass ich mir Schutz suchen könnte in einer Institution, der es – bisher zumindest - weniger um den Menschen als um den Erhalt ihrer Institution geht.

 

Prophet*innen haben keinen leichten Stand; meist stehen sie alleine da, ohne den Rückhalt einer sie schützenden Gemeinschaft; und noch mehr: Prophet*innen sind zumeist Mahner*innen einer verfestigten, sich ihrer selbst sicher seienden Gemeinschaft gegenüber. Sie hinterfragen die Prinzipien, denen sich die Gemeinschaft verpflichtet fühlt; sie hinterfragen, ob die Gesetze, die die Menschen beschlossen haben auf den Fundamenten ihrer Prinzipien, ihrer Ethik, ihres Glaubens zuerst der Stärkung zum Menschsein des/der einzelnen dienen, oder ob sich die Gesetze schleichend verselbständigt haben und aus dem Blick verlieren, um die es geht: um die Menschen eben.

 

Prophet*innen verweisen auf Gott und auf das, was Gott von sich preisgibt: „Wie ein Hirt führt er seine Herde zur Weide, er sammelt sie mit starker Hand. Die Lämmer trägt er auf dem Arm, die Mutterschafe führt er behutsam.“ (Jesaja 40,11) Sammeln und zusammenführen, aber nicht eingepfercht in dunklen Ställen, sondern draußen auf der Weide. In der Freiheit zusammenführen; in Freiheit sammeln, auf dass jede/jeder sich beschützt wissen darf und zugleich frei sein kann.

 

„Erheb deine Stimme mit Macht“ (Jesaja 40,9). Im zweiten Bild unseres Krippenweges sind diese Jesaja-Texte zu lesen und ein Bildhinweis erinnert an eine/einen Protestler*in. Das Megaphon könnte den Eindruck erwecken, es käme auf die Lautstärke an, mit der wir uns vermitteln. Aber eben gerade das nicht. Manchmal könnte man das ja meinen, wenn wir hören und sehen, wie lautstark und aggressiv einige Menschen im Augenblick auf den Straßen lamentieren. Nicht die Lautstärke ist maßgebend, sondern die Botschaft. Und der Mensch, der sie vermittelt. „Du Botin der Freude“ beschreibt Jesaja die Menschen in Jerusalem. Es ist vielleicht nicht so ganz einfach, in diesen Tagen eine unbeschwerte Freude zu vermitteln; dazu ist unser Alltag im Augenblick zu sehr geprägt von Einschränkungen und Verboten. Aber es wäre doch mal einen Versuch wert, der aggressiven Stimmung, die ich zuweilen in der Öffentlichkeit wahrnehme, mit einer gewissen inneren Gelassenheit zu begegnen und dann einen wirklich streitbaren und streitfähigen Dialog zu beginnen, denn man kann auch mit einer inneren Freiheit streiten, ohne Überheblichkeit, ohne Selbstherrlichkeit, ohne Selbstüberschätzung, aber mit einer Dankbarkeit darüber, dass wir streiten dürfen und es können, und dass wir eine eigene Überzeugung haben, wie eben auch unser Gegenüber; dabei stets im Blick, die Herde zusammenzuführen, die Kleinen zu tragen und die Erwachsenen behutsam führen. Und all das geht vor allem dann gut aus, wenn nicht Titel und Ämter und falsch verstandenes Macht- und Ständedünken uns prägen, sondern die Hoffnung, dass Freude auch in der Verschiedenheit der menschlichen Erfahrungen sich breit machen kann.