Gedanken zum Karfreitag

2022_04_Karfreitag _ Kreuz (c) Chr. Simonsen
Datum:
Fr. 15. Apr. 2022
Von:
Christoph Simonsen

Im Leben: Da habe ich selten den Tod im Blick; meinen Tod meine ich, nicht irgendeinen Tod. Der Tod der anderen, der ist mir vertraut, so traurig und tragisch das auch klingen mag. Der Tod begegnet mir jeden Tag, nahezu massenweise. Ich bin betroffen über die vielen Tode auf den Meeren dieser Welt; in den Kriegen dieser Welt; in den Krankenhäusern und Pflegeheimen; auf den Straßen Europas, wo wieder Grenzbarrieren und Stacheldrahtzäune hochgezogen werden, die wir alle uberwunden glaubten; in den Straßen unserer Nachbarschaft, wo still Menschen sterben ohne großes Aufsehen. Überall ist das Sterben und der Tod gegenwärtig. Wir nehmen ihn wahr, wir nehmen Anteil. Und dennoch: Im Leben - in meinem Leben - da hat der Tod selten Einfluss. Der Tod ist allgegenwärtig, doch wenn er mir zu nahe kommt, dann möchte ich am liebsten die Straßenseite wechseln. Im Leben, da ist das Leben das Ziel, und nicht der Tod.

Heute, wie in der ganzen Woche, schauen wir auf einen, der dem Tod nicht mehr ausweichen konnte. Jesus wurde genötigt, seinen Tod anzuschauen. Und er schaute ihn an. Er wich nicht aus, wechselte nicht die Straßenseite, wechselte nicht die Überzeugung, wechselte nicht die Freunde, wechselte auch nicht seinen Glauben. Jesus ging offenen Blickes auf seinen Tod zu. Jesus lehrt mich, den eigenen Tod nicht auszublenden; er lehrt mich, dem Tod einen Sinn abzuringen; er lehrt mich, den Tod in einem doppelten Sinne zu fürchten: in seiner Absolutheit wie auch  in seinem Geheimnis.

Jesus liebte das Leben und auch er fürchtete den Tod, aber die Furcht war der Ehrfurcht gezollt ohne die Angst zu leugnen. Jesus hatte auch Angst vor dem Tod. Ehrfurcht bewahrt nicht vor der Angst, aber sie lässt die Angst ertragen. Das unterscheidet Jesus von den Kriegstreibern unserer Tage. Sie ehren den Tod nicht, sie missachten sein Geheimnis und sie missbrauchen ihn, weil sie sich seiner habhaft machen wollen und verkennen, dass der Tod in Gottes Hand liegt und nicht in der Hand der Menschen. Weil der Tod in Gottes Hand liegt und weil Jesus diesem Gott vertraut, deshalb vermag er den Tod anzuschauen, seinen Tod.

Ja es bleibt wahr: Auf dem Weg im Leben ist das Leben das Ziel. Nicht der Tod ist das Ziel, sondern das Leben. Deshalb lehrt mich Jesus, den eigenen Tod nicht auszublenden, nicht weil der Tod das Ziel wäre, sondern weil die Grenze des Todes mir den unermesslichen Wert des Lebens vor Augen führt. Die verblendeten Kriegsmörder unserer Tage haben ausschließlich im Blick, Land zu erobern, Menschen zu besitzen, aber sie haben nicht das Leben im Blick.

Jesus hat nichts anderes vor Augen als die Güte und die Liebe Gottes, aus der heraus er alles Leben und so auch den Menschen geschaffen hat, damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben. Jesus hat die innere Geisteskraft, den Tod anzuschauen, weil er dem Leben einen Dienst erweisen möchte. Wer den Tod nicht ausblendet aus dem Leben, der erst erkennt den Wert des Lebens.

An seinem Todestag, am Todestag Jesu, an diesem göttlichen Todestag, wollen wir das Leben ehren. Nicht das Kreuz verherrlichen wir, nicht die Grausamkeit des Todes, ja nicht einmal den Tod verherrlichen wir, sondern das Leben, das sich durch die Wirklichkeit des Todes in seiner größten Würde zeigt und von Gott begleitet ist.

Deshalb ist mir diese Kreuzesdarstellung der Künstlerin Czaja Braatz so kostbar. Sie zeigt mir, dass im Tod der Keim des Lebens liegt. Von den toten Armen, den blutverschmierten Händen Jesu verlängern sich Wurzeltriebe, aus denen neues Leben erblühen kann. Manche mögen denken, dies sei eine unangemessene Kreuzesdarstellung. Ich denke. Nein! Sie zeigt die christlichste aller christlichen Interpretationen einer Kreuzdarstellung: Im Kreuz ist Hoffnung, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Neubeginn.

So sind wir jetzt eingeladen, vor das Kreuz zu treten, ihm die Ehre zu erweisen, da sich in diesem Kreuz das Leben in seiner tiefsten Würde zeigt.

Währenddessen hören wir das Lied der Maria Magdalena: „I don’t know, how to love him“. Ich weiß nicht, wie ich ihn lieben soll. ‚Ich könnte es nicht verkraften. Ich könnte es einfach nicht verkraften. Ich würde den Kopf abwenden, ich würde mich zurückziehen. Er macht mir solche Sorgen.‘ So singt Maria Magdalena. So kann nur ein Mensch fühlen, der Liebe nicht verstehen, sondern eben zu fühlen sich wagt.