Traum und Wirklichkeit
Tagung des Diözesanrates der Katholiken im Bistum Aachen Mönchengladbach, 18.01.20
Gerechtigkeit, vor allem denen gegenüber, die in unserer Kirche struktureller Ungerechtigkeit ausgesetzt sind, notwendige Erneuerung einer auf Machtbesitz beharrenden Kirche, Respekt vor einer gottgeschenkten Lebensvielfalt, die von einer lieblos unmenschlichen Moralität missachtet wird: Diese und andere, zum Widerstand aufrufenden Wirklichkeiten in unserer Kirche haben uns heute beschäftigt.
Und nun, zum Ende unserer Tagung, bin ich gebeten, einen ermutigenden, positiven Schlusspunkt zu setzen. An meinem dicken Schal, den ich anhabe, merken Sie, dass ich es gewohnt bin, in einer kalten Kirche zu arbeiten. Das geht durchaus sehr gut, wenn ich dieses Bild auf unsere Citykirche beziehe. Nun ist es aber auch im übertragenen Sinn in unserer Kirche im Bistum Aachen ziemlich kühl geworden. Deshalb bin ich sehr froh, mit Ihnen heute die Erfahrung gemacht haben zu dürfen, dass engagierte Menschen trotz manchen Widerstandes Wärme und Warmherzigkeit in die Kirche bringen können.
Sie merken vielleicht dennoch, dass das schon eine Herausforderung ist für mich: Im Blick auf unsere Kirche positiv gestimmt zu wirken; bin ich doch eher skeptisch, angesichts jüngster Erfahrungen.
Also: Es ist schon eine Kunst für sich im Augenblick, in unserer Kirche positiv gestimmt zu sein. Aber der Glaube versetzt ja bekanntlich Berge, harte Herzen werden weich und Starres kommt in Bewegung. Was wären wir ohne die Hoffnung, die uns der Glaube ins Herz legt und ohne Phantasie, die grenzenlos stark ist. Und was wären wir ohne die Gewissheit, dass warme Worte kalte Herzen erweichen können.
Worte allein schaffen noch keine Gerechtigkeit, aber sie mahnen sie an; Worte allein bewegen nichts, aber sie bringen ins Wanken; Worte bleiben Worte, aber sie können berühren.
Seitdem ich hier in Mönchengladbach in der Citykirche sein darf, begleitet mich ein Wort von Rose Ausländer
Ich suche
eine Insel
wo man atmen kann
und träumen
dass die Menschen gut sind
Ja, diese Worte berühren mich, sie wecken meinen Mut und meine Phantasie. Ich wünsche mir sehr, dass die Citykirche hier für einige so eine Insel sein kann, wo sie atmen und wo sie träumen können, dass die Menschen gut sind. Gut, dass es diese Insel Citykirche gibt. Gut, dass es überhaupt Inseln gibt, wo zu träumen und zu probieren möglich ist.
Für Peter zum Beispiel oder für Sharim, die so oft in der Woche hierherkommen, um einfach mal mit anderen zu quatschen und zu erzählen: Peter, der Obdachlose, der nach einem Haftaufenthalt seine Wohnung verloren hat und nun mit seinem Hund jeden Tag neu suchen muss, wo er nachts bleiben kann; oder Sharim, der Hindu ist und Alkoholiker, und immer wieder kommt, um für einen Augenblick Halt zu finden und immer wieder fragt, ob Glaube wirklich diesen ersehnten Halt schenken kann. Gut auch für Wolfgang, der bei der Stadt arbeitet und nebenher künstlerisch arbeitet und einen Ort sucht, wo er seine Bilder ausstellen kann; gut auch für Dennis, der verschiedene Elektromusiker als Manager betreut und fragt, ob ein Musiker hier auftreten könnte.
Gut für die Frauengemeinschaft der KfD, die hier ihren Unmut darüber zum Ausdruck bringen kann, dass es in der katholischen Kirche schon als Erfolg gilt, wenn eine Frau im Vatikan Untersekretärin werden kann.
Gut für die, die sich unsicher sind, ob das hier wirklich eine katholische Kirche ist und dann entdecken, dass heiliger Ort und Lebensort sich nicht ausschließen müssen. Gut für die vielen, die en Passant einfach so mal reinschauen. Gut für die Gruppe, die Lebensmittel sammelt, um sie sonntags zum Hambacher Forst zu bringen, und für die Jugendlichen+ aus der Musikschule, die hier ihre Probekonzerte gestalten in Vorbereitung von „Jugend musiziert". Ich könnte noch viele andere hier vorstellen. Dieser kleine Ausschnitt zeigt, dass in Kirche unterschiedlichste Menschen einen Ort zum Atmen und zum Träumen finden.
Und ja, hier kann man und frau wirklich erfahren, dass Menschen gut sind. Man kann auch gut sein, wenn man miteinander ringt und streitet. Das gelingt nicht immer, aber es ist immer wieder neu einen Versuch wert. Dann natürlich stoßen auch verschiedenste Lebenserfahrungen und Überzeugungen in einem Raum aufeinander, der so offen ist, wie die Citykirche. Auch das lässt atmen und träumen, in der Verschiedenheit auf geheimnisvoll gläubige Weise das Gut sein im Gegenüber wahrnehmen zu können ohne vereinnahmen zu wollen und auch womöglich mit der Konsequenz, verschiedene Wege zu gehen, ohne den Weg des anderen zu blockieren.
Ich suche eine Insel wo man atmen kann
und träumen dass die Menschen gut sind
Rose Ausländer hat recht: Solche Orte sind Lebensinseln. Aber wie komme ich wieder ans Festland? Es braucht Brücken oder Fähren. Es braucht Verbindung zwischen Traum und Wirklichkeit. Wie finden Traum und Wirklichkeit zusammen?
Mir sind die Gedanken des rumänischen Essayisten und Philosoph Emil Cioran (1911-1995) bei dieser Suche nach Verbundenheit zwischen Traum und Wirklichkeit hilfreich. Cioran war bis 1933 ein glühender Verfechter Adolf Hitlers; dann hat er erkannt, wie perfide seine Überzeugungen waren. Diesen psychischen Bruch in sich selbst, diese tiefe Kränkung im Blick auf sich selbst, die kaum auszuhalten ist und die krank machen kann, hat er 1934 in seinem Buch festgehalten: „Auf dem Gipfel der Verzweiflung“.
Darin schreibt er unter anderem: „Ich würde eine Welt lieben, in der es gar kein Kriterium gäbe, keine Form und keinerlei Prinzip, eine Welt der absoluten Unbestimmtheit. Denn in unserer Welt sind alle Kriterien, Formen und Prinzipien schal.“
Wenn diese These vielleicht auch in ihrer Absolutheit der besonders tragischen Lebenserfahrung des Emil Cioran geschuldet ist und Ausdruck einer überbordenden Depression, so ist sie in meinen Augen doch auch übertragbar auf eine gewisse Grundbefindlichkeit unserer Kirche. Prinzipien, Kriterien und Formen, die absolut gedacht werden, machen das Leben schal. Und inzwischen verhärtet sich der Eindruck, dass es vorrangig zwei Gruppen gibt in der Kirche, die je eigen damit umgehen: die einen geben auf und verlieren sich in Gleichgültigkeit, und die anderen kämpfen für eine neue Gerechtigkeit in der Kirche und gegen ihre Verzweiflung.
Als hoffender, als glaubender Mensch gebe ich aber nicht auf, denn ich weiß um den Auftrag Gottes, die Welt zu einem Ort zu gestalten, wo sich leben lässt und wo alle eine Ahnung hegen dürfen darüber, wie es im Himmel aussieht. Deshalb bleibt nur, zu kämpfen. Und Antrieb dieses Kampfes ist womöglich die innere Verzweiflung ob der Widerwärtigkeiten, in die wir alle verstrickt sind, in der auch unsere Kirche verstrickt ist. Die Verzweiflung darüber, dass Traum und Wirklichkeit auseinanderklaffen wird zur Antriebskraft, der Wirklichkeit den Traum einzuverleiben.
Jacques Gaillot wurde vor genau 25 Jahren von seinem Bistum Evreux als Bischof zwangsentpflichtet, weil er seinen Traum von Kirche in die Wirklichkeit hineingetragen hat, zum Leidwesen der Mächtigen. In einer Botschaft zu Pfingsten verdeutlichte er, dass die Wirklichkeit vom Traum des Glaubens durchwirkt wird und sich eine neue Wirklichkeit der Verbundenheit und der Offenheit durchsetzt. Dort schreibt er: „Nun ist der Abendmahlssaal offen für die Vielen. Die kleine Apostelgemeinde spricht zur großen Gemeinschaft der Menschheit. Die ganz am Vergangenen festhielten, wenden sich dem Kommenden zu. Von der Angst gehen sie über zur Begegnung, von der Isolierung zum Dialog. Kommunikation gelingt, der Funke springt über, die Leute hören hin. Sie sind innerlich getroffen. Die Scharen nehmen die Botschaft auf. Jeder begreift sie in seiner eigenen Sprache und fühlt sich getroffen. Was ist eigentlich geschehen? Der Geist Gottes hat alle Widerstände beiseite geräumt, alle Angst vertrieben. Er hat die Herzen geöffnet. Er hat die Zukunft freigesetzt. Der Geist des Pfingsttages hat die Begegnung möglich gemacht zwischen der Gemeinde des Abendmahlssaales und der Volksmenge, in der alle Völker der Erde vermischt sind. Die Kirche von Pfingsten ist eine Kirche der Kommunikation, des Dialogs, der Begegnung. Da springt der Funke über. Die Botschaft kommt an.“
Das ist mein Traum, dass die Botschaft ankommt und der Abendmahlssaal allen offen steht. Und dieser Saal dann keine Insel mehr ist, sondern auf festem Boden steht.
Christoph Simonsen