Heute jährt sich zum 75. Mal die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Die Erinnerungskultur unserer Gesellschaft ist durch die üble Stimmungsmache rechtspopulistischer Kreise ins Gerede gekommen und mit heftigen Anwürfen überzogen worden. Vertreter einer „Schlussstrich -Mentalität“ fordern immer wieder lauthals eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. (AfD) Andere beschleicht aus guten Gründen Zweifel, ob die angebliche „Erfolgstory“ der deutschen Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht doch eine Selbsttäuschung sei, ein „dünner Firnis, unter dem sich ein Abgrund von Unbelehrbarkeit, Rassismus und Antisemitismus auftut.“ (Samuel Salzborn)
Unsere Bischöfe haben diesen Tag zum Anlass genommen, um sich in einer kritischen Reflexion mit der Rolle ihrer Vorgänger in den Kriegsjahren auseinanderzusetzen. Es ist ein lesens- und beachtenswertes Dokument.
Ich möchte deshalb heute dem Limburger Bischof Dr. Georg Bätzing das Wort geben. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz schreibt in seinem einführenden Vorwort:
„Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa, der 1939 vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselt worden war. Mehr als 50 Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Im Westen des Kontinents handelte es sich um einen Unterwerfungskrieg, im Osten – vor allem in Polen und gegenüber
den Völkern der Sowjetunion – aber wurde ein Versklavungs- und Vernichtungskrieg geführt. Im Schatten der Kampfhandlungen verübten die Nationalsozialisten das Menschheitsverbrechen der Shoa: Sechs Millionen Juden wurden ermordet. Auch
Hunderttausende Sinti und Roma kostete ein vom „Dritten Reich“ systematisch betriebener Völkermord das Leben. Als der Krieg endlich vorüber und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gebrochen war, lagen unzählige Städte, vor allem im Osten des Kontinents und in Deutschland, in Schutt und Asche.
Während überall in Europa der 8. Mai 1945 seit Jahrzehnten als Tag des Glücks und der Freude erinnert wird, taten wir Deutschen uns lange schwer mit diesem Datum. Es war der Tag der Kapitulation, der Niederlage, und er fiel in eine Zeit, in der die
Deutschen wie nie zuvor selbst die Folgen des von ihnen verursachten Krieges erleben mussten: als Besatzung, als Hungersnot, vor allem aber als Vertreibung und Flucht aus den östlichen Gebieten des Reiches. Dennoch: Mit wachsendem zeitlichen Abstand vom Geschehen haben die Deutschen immer tiefer verstanden, dass der 8. Mai auch für uns vor allem ein Tag der Befreiung war: Befreiung von der Geißel des Krieges, nationalsozialistischer Unterdrückung und Massenmord.
Europa ist in den Jahrzehnten nach dem Weltkrieg keinen gradlinigen Weg gegangen. Getrennt durch einen „Eisernen Vorhang“ standen sich Ost und West lange Zeit feindselig gegenüber. Aber die Integration Westeuropas, die schließlich in die Europäische Union mündete, die Aussöhnung zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn und die Entspannungspolitik gegenüber dem Osten, vor allem die Versöhnung mit Polen, haben dazu beigetragen, dass Vertrauen wuchs und Konflikte nicht in kriegerische Gewalt mündeten. Dies war die Voraussetzung für den Umbruch, aus dem Ende der 1980er Jahre ein neues Europa hervorging.
Das Christentum hat Wesentliches zum Gelingen dieser Prozesse geleistet. Kirchliche Amtsträger und ebenso viele Organisationen und Gruppen, die von christlichem Geist angetrieben waren, haben der Versöhnung zwischen den Völkern gedient, Vorurteile und Stereotypen bekämpft und Menschen über die Blockgrenzen des „Kalten Krieges“ hinweg zusammengeführt. Obwohl erheblichen Repressionen ausgesetzt, haben auch die Kirchen im Osten Europas die Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Gewaltfreiheit verteidigt und so zum Wandel beigetragen.
Heute, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben wir Grund zur Dankbarkeit. Sie gilt allen, die geholfen haben, die Macht des Nationalsozialismus zu brechen, und ebenso allen, die in den folgenden Jahrzehnten für Frieden und Völkerverständigung, für Versöhnung und Recht, für Demokratie und würdige Lebensverhältnisse tätig waren. Die dankbare Erinnerung ist zugleich mit dem Auftrag verbunden, dieses Erbe in die Zukunft zu tragen. Europa ist derzeit, so scheint es, in keinem guten Zustand. Der alte Ungeist der Entzweiung, des Nationalismus, des „völkischen“ Denkens und autoritärer Herrschaft erhebt
vielerorts, auch in Deutschland, sein Haupt, ja er ist in einigen Ländern zur dominierenden Kraft geworden. Wer aus der blutigen Geschichte gelernt hat, muss diesen Tendenzen entschieden entgegentreten. Auch die Kirche, dem Evangelium der Gerechtigkeit und des Friedens verpflichtet, ist hier ohne Wenn und Aber gefordert.
Dabei wissen wir: Auch uns als Kirche bleibt das Lernen aus der Geschichte nicht erspart. So sind in den zurückliegenden Jahrzehnten viele Diskussionen über das Verhalten der Kirchen und besonders ihrer Amtsträger während des Nationalsozialismus geführt worden. Manches, das zu großer Dankbarkeit Anlass
gibt, wurde dabei zutage gefördert, manches aber auch, das uns beschämt. So schmerzhaft diese Erfahrungen sind, so notwendig sind sie für die Erneuerung der Kirche. Denn Wahrhaftigkeit gehört unverzichtbar zum Weg der Christen. …
Keine Generation ist frei von zeitbedingten Urteilen und Vorurteilen. Dennoch müssen sich die Nachgeborenen der Geschichte stellen, um aus ihr zu lernen für Gegenwart und Zukunft.“
(Deutsche Bischöfe im Weltkrieg. Wort zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2020)