Prioritäten

Verletzung (c) Bild von Hans Braxmeier auf Pixabay
Datum:
Mi. 22. Apr. 2020
Von:
Pastoralreferent Dietmar Jordan

In der Telefonkonferenz mit den Kolleg*innen im Büro der Aachener Bistumsregionen erfahre ich, was es bedeuten kann, in diesen nachösterlichen Tagen die Wunden des auferstandenen Christus zu berühren. Diese Zumutung richtet sich ja nicht nur an den angeblich ungläubigen Thomas. (Joh 20, 24 – 29) Sie richtet sich an uns alle als Christenmenschen und als Kirche, die wir uns mit österlichem Herzen fragen, wohin uns der Auferstandene nach den Tagen des feierlichen Osterallelujas führt, an welchen Orten unseres alltäglichen Galiläas er uns voraus ist und unsere Nachfolge erwartet. (Mt 28, 1 – 10)

Ich höre, dass sich die soziale und ökonomische Lage von Menschen in bestimmten Aachener Stadtteilen offensichtlich zuspitzt und zunehmend verschlechtert. Unsere MitarbeiterInnen in den Häusern der offenen (!) Tür für Kinder und Jugendliche müssen ihre Einrichtungen (aus nachvollziehbaren Gründen) weiterhin geschlossen halten. Und sie erleben gleichzeitig, wie Kinder und Jugendliche draußen vor der Tür stehen und mit der Lage immer schlechter klarkommen. Da sind die Langeweile und das Vacuum der vielen jetzt auferlegten „Freizeit“. Da sind die oft schwierigen familiären Situationen, die ein friedliches Miteinander und ein weiteres Aushalten in den häuslichen vier Wänden zum Kraftakt oder schlicht zum No-Go machen. Und da sind die ganz praktischen Einbrüche und Ausfälle, die den bisher einigermaßen bewältigten Alltag immer mehr zu einer erheblichen Herausforderung werden lassen. Ich höre von leerer werdenden Familienkassen. Ich höre vom Wegbrechen eigentlich eingeplanter Betreuungsangebote, vom Ausfall regelmäßiger Mittagsmahlzeiten, die sonst im Rahmen der schulischen Versorgung gewährleistet wären. Ich höre von Kindern, die bereits Kohldampf schieben und dankbar sind für die ihnen an den Einrichtungstüren gereichten Carepakete und Rezeptanregungen zum Selberkochen.

Ich erfahre, wie die Mitarbeiter*innen dieser Einrichtungen nach drei Wochen Schließzeit mit sich ringen: Wie können wir auch bei verschlossenen Türen weiterhin für Kinder und Jugendliche, die uns brauchen, da sein? Wie können wir in Beziehung bleiben, ansprechbar sein, mitkriegen, was läuft. Und gleichzeitig nagen die Fragen: Werde ich gebraucht? Bin ich noch nützlich? Bleibt meine Einrichtung erhalten? Offene Jugendarbeit in kirchlicher Trägerschaft wird derzeit (digital) komplett neu erfunden. Ich hoffe, dass es gelingt. Und ich weiß: Das verlangt den Mitarbeiter*innen im Moment einiges ab. Ich finde: Sie leisten eine tolle Arbeit, deren pastoraler Wert im Inner-circle unserer Kirche viel zu wenig gesehen und geschätzt wird. Und ich bin dankbar für alle, die verstanden haben, dass in solchen Häusern der offenen Tür nicht nur Freizeitgestaltung betrieben, sondern ein offensichtlich unverzichtbarer Beitrag zum sozialen Frieden geleistet wird.

Ein Kollege erzählt von den Herausforderungen, denen Menschen ausgesetzt sind, die in unseren kirchlichen Einrichtungen und Initiativen mit Langzeitarbeitslosen ihren Tag strukturieren und ihr finanzielles und auch psychisches Überleben halbwegs über die Runden bringen. Auch sie leiden an den fortdauernden Schließungen und an den jetzt spürbaren finanziellen Löchern, die der Ausfall bestimmter Lohnersatzleistungen für sie bedeutet. Und ich bin froh und dankbar, dass engagierte Christinnen und Christen beim Verein Pro Arbeit und auch in unseren regionalen Räten und Initiativen diese Situation im Blick haben und sich Mühe geben, im Blick auf die Betroffenen öffentliche Aufmerksamkeit und konkrete Unterstützung zu organisieren.

Ich höre, dass die Zahl der aufgrund häuslicher Gewalt notwendigen Polizeieinsätze erheblich gestiegen ist. Ich ahne die dahinter liegenden Dramen und Abgründe. Und ich bin gleichzeitig dankbar, dass haupt- und ehrenamtliche Christenmenschen in unserer ökumenischen Telefonseelsorge und in den verschiedensten kirchlichen Beratungseinrichtungen sich alle Mühe geben, ratlosen und verzweifelten Mitmenschen wenigstens ein Ohr zu leihen.

„Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite. Und sei nicht ungläubig, sondern glaube!“ (Joh 20,27) Das sind die Worte des Auferstandenen an den angeblich ungläubigen Thomas. Das sind auch seine Worte an uns, die wir als Christenmenschen gemeinsam mit vielen anderen jetzt in dieser Pandemiekrise unterwegs sind. – Wo, wenn nicht in den angedeuteten Problemzonen unseres gesellschaftlichen Alltags, finden wir jenes „Galiläa“, an dem uns der Auferstandene voraus ist? (Mt 28, 7) Wo, wenn nicht dort, mutet er sich zu in den von schmerzlichen Lebenswunden gezeichneten Menschen? Wo, wenn nicht dort erfahren wir seine reale sakramentale Gegenwart? Sie ist keine andere als die, die uns in der Feier der Eucharistie und jedes Mal, wenn zwei oder drei sich in seinem Namen versammeln, versprochen ist. Das sollten wir ernst nehmen und uns jetzt nicht vorrangig mit Fragen der Rückkehr in die gottesdienstliche Normalität verschleißen. Der uns in diesen Tagen aufgetragene Gottesdienst findet offensichtlich außerhalb unserer Kirchenräume und jenseits unserer schönen Liturgien statt.

Ich bin fest überzeugt: Die schmerzlichen Wunden in den Problemzonen unseres gesellschaftlichen Alltags sind auch die Wunden des auferstandenen Christus. An Ihn glauben und Ihn als unseren „Herrn und Gott“ bekennen (Joh 20, 28), - das werden wir nur dann glaubhaft können, wenn wir vorher die Wunden berühren, die uns nahezu täglich zugemutet sind.