Die Veröffentlichung des Missbrauchsgutachten in München (20.01.2022) hat bei vielen Menschen eine große Erschütterung ausgelöst.
Sicher war im Vorfeld schon manches geahnt und vieles befürchtet worden. Aber was dann wirklich bei der Veröffentlichung zu Tage trat, übertraf alles Bisherige an negativen Nachrichten.
Um es klar zu sagen: das vor allem Erschütternde sind die vielen Missbrauchsverbrechen, die an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen innerhalb der Kirche verübt wurden (und werden). Sie können in keiner Weise entschuldigt oder mit Geldabfindungen abgegolten werden.
Durch das Münchener Gutachten hat der ganze Missbrauchsskandal und der mehr als mangelhafte Umgang der Verantwortlichen mit den Tätern und dem Leid der Betroffenen endgültig die oberste Spitze unserer Kirche erreicht. Hinzu kommt, dass dem emeritiertem Papst Benedikt eine Falschaussage vorgehalten wird. Die Glaubwürdigkeit unserer Kirche geht immer mehr verloren.
Sicher gibt es nach wie vor Gutes, Menschen, die aus christlicher Gesinnung anderen helfen, ihnen beistehen. Aber all das wird überdeckt durch dieses Verhalten. Es ist erschreckend und beschämend, dass mit dem Skandal der Missbrauchsverbrechen, die sicher auch ein gesamtgesellschaftliches Problem sind, unsere Kirche an exponierter Stelle genannt wird.
Wer wird zukünftig noch bei uns Rat und Hilfe suchen in seinen tiefsten Ängsten und Nöten, wer wird uns noch Vertrauen schenken?
Sicher – hoffentlich! - wird es weiter Menschen geben, die eben die anderen, positiven Erfahrungen gemacht haben und machen. Aber für die meisten Menschen haben wir unseren Kredit verspielt.
Als Institution, die eine gewisse Moral vertritt und dafür ihre Stimme erhebt, werden wir nicht mehr gehört (z.B. beim Einsatz für das ungeborene Leben oder Leben in Würde bis zum Tod).
Es kann so nicht weiter gehen! Es darf so nicht weiter gehen. Wir stehen an einem Wendepunkt, an einer Zeitenwende. Eine bloße Reform reicht nicht mehr aus, Ausbesserungen, kleinere und größere Änderungen oder ein neuer Anstrich bringen nichts. Die Kirche – ich meine die katholische, aber vielleicht trifft das in ähnlicher Weise oder anderen Punkten auch auf die evangelische zu – muss in ihren Grundfesten erschüttert werden.
Ob es unsere Kirche in 5 oder 10 Jahren noch gibt? Ich weiß es nicht, ich weiß aber wohl, dass es sie so nicht weiter geben darf!
Unsere Kirche muss rund-erneuert werden.
Das hört sich alles sehr nüchtern und pessimistisch an. Was unsere Kirche angeht, sehe ich das sicher so, aber nicht was die Botschaft Jesu, die Botschaft des Evangeliums betrifft.
Die Botschaft Jesu geht weiter. Sie ist nicht zu besiegen und wird nicht vernichtet. Er, der gekommen ist, „den Armen eine frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen“ (vgl. Lk 4, 18-19), hat uns verheißen, „dass er bei uns ist alle Tage bis ans Ende der Welt“ (vgl. Mt 28, 20b).
Gott sucht und findet zu allen Zeiten Menschen, die für diese Botschaft einstehen, nicht nur in Worten, sondern vor allem durch ihr Leben. Diese Menschen werden sich vielleicht auch wieder zusammentun, denn eine gute Gemeinschaft stärkt und beflügelt.
In welcher Verfasstheit dies geschieht, kann ich nicht sagen. Aber ich bin sicher: in der Form, in der sich unsere Kirche derzeit gibt, wird und darf es nicht sein!
Pfr. Hans-Georg Schornstein, Geistlicher Assistent des Katholikenrates Aachen-Stadt