Mit Hochdruck haben die Krisenstäbe unserer kirchlichen Autoritäten Regelungen erarbeitet, die eine Wiederbelebung der während des Shutdowns ausgesetzten öffentlichen Gottesdienste fördern sollen. Auch in unserem Bistum sind jetzt entsprechende Richtlinien vorgelegt worden, die öffentliche Gottesdienste unter Beachtung entsprechender Hygienekonzepte schon bald wieder ermöglichen wollen. Den Gemeinden vor Ort wird dabei ein erheblicher organisatorischer Aufwand und den potentiellen Besuchern solcher Gottesdienste ein nicht unerhebliches Maß liturgischer Einschränkungen zugemutet.
Ich frage mich: Wer – außer bestimmten Priesterkreisen und Menschen im absoluten Innercircle unserer Kirche – braucht jetzt möglichst bald solche Gottesdienste? Und wer hat nach ihnen gerufen? Es ist einfach lebensfern, wenn manche Amtsträger behaupten, die Menschen sehnten sich gerade jetzt nach der Feier der Eucharistie und der Spendung der Sakramente. Solche Einschätzungen zeigen eher, in welch abgehobenen Welten sich manche Kirchenmänner bewegen. Die Menschen haben ganz andere Sorgen und Nöte. Und auch unsere Gesellschaft ist mit ganz anderen Fragen beschäftigt.
In meiner Umgebung bangen Menschen um ihre gesundheitliche oder berufliche Existenz. Die einen schieben Kurzarbeit, die anderen sorgen sich um ihren Betrieb und die Zukunft ihrer Mitarbeiter. Andere leben angesichts der Mehrfachbelastung von Kinderbetreuung, Home-Schooling, Home-Office und Hausarbeit täglich an der Grenze ihrer Kräfte. Wieder andere sehnen sich nach dem Ende der nun schon über mehrere Wochen zugemuteten Isolierung. Sie fragen nach dem leibhaftigen Wiedersehen mit Kindern und Enkeln. Letztere verstehen immer weniger, warum sie sich nicht endlich wieder mit ihren Freunden treffen und bei herrlichem Wetter auf dem Spielplatz herumtollen dürfen. In Schulen, Geschäften und Betrieben mühen sich Lehrer und Mitarbeitende um die Realisierung alltagstauglicher Schutzkonzepte.
Und wen das überhaupt noch interessiert, der/die kann sich des Eindrucks kaum erwehren, Kirche sei vorrangig mit „Luxusproblemen“ und mit der Rettung ihrer „Partikularinteressen“ beschäftigt (wie der Magdeburger Bischof Gerhard Feige es genannt hat). Dabei geht es dann um die öffentliche Maiandacht, der nun - bei Einhaltung aller Hygienebestimmungen - nichts mehr im Wege steht. Wahlweise kann man jetzt auch im Autokino an ökumenisch performten Gottesdiensten teilnehmen. Dass bei solchen religiösen Events fundamentale Übereinkünfte und Baugesetze liturgischen Feierns mindestens zu kurz kommen, wenn nicht gar über Bord geworfen werden, scheint kaum jemanden zu stören. Ganz zu schweigen von den ökologischen Aspekten eines solchen Fahrzeugauflaufs. Hauptsache: Es kommt an. Es gibt Applaus. Und die Kirche geht endlich mit der Zeit!
In all dem offenbart sich wieder einmal die katholische Versuchung, Gottesdienst und geistliches Leben im Wesentlichen amtlich und priesterzentriert zu verstehen, zu praktizieren und natürlich auch vorzuzeigen. Das Zutrauen in die geistliche Kompetenz der vielen getauften und gefirmten Laienchrist*innen, die auch ohne „priesterliche Betreuung“ mindestens eine Zeitlang spirituell und keineswegs unter Aufgabe ihrer Kirchenbindung ganz gut klarkommen, scheint – auch bei ihnen selbst – nicht sehr ausgeprägt zu sein. Besser und richtig wird es scheinbar immer erst dann, wenn ein Priester am Werk ist … Merkt eigentlich noch jemand, dass eine solche Einstellung nur die „halbe“ Wahrheit katholischen Kirchenverständnisses ist und dass eine so veramtlichte Engführung kirchlichen Christseins unter den Bedingungen unserer postmodern individualisierten Gesellschaft kaum zukunftsfähig sein dürfte?
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich gehört die öffentliche Feier von Gottesdiensten zu den Essentials kirchlichen Lebens. Und natürlich braucht es dabei auch priesterlichen Dienst. Die spannende und vielleicht alles entscheidende Frage ist die nach ihrer inhaltlichen Bestimmung und angemessenen Gewichtung. Priester sind jedenfalls kein Ersatz für eine mit den Geist- und Gnadengaben aller getauften und gefirmten Christenmenschen beschenkten Kirche. Und um (fast) jeden Preis öffentlich gefeierte Gottesdienste sind in Pandemie-Zeiten gewiss nicht die vorrangige pastorale Option einer Kirche, die ihren Weg solidarisch an der Seite der Menschen gehen will. Der uns in diesen Tagen aufgetragene Gottesdienst findet offensichtlich und vorrangig außerhalb unserer Kirchenräume und jenseits unserer schönen Liturgien statt.
„Das Schicksal der Kirchen“ hat der 1945 von den Nazis zum Tode verurteilte Jesuitenpater Alfred Delp mit ihrer konsequenten „Rückkehr in die Diakonie“ verbunden. Ein geradezu prophetisches Wort, dessen Wahrheit sich in diesen Tagen der Pandemie eindrücklich bestätigt.