Verzeihen

Streit (c) Bild von mohamed Hassan auf Pixabay
Datum:
Di. 5. Mai 2020
Von:
Pastoralreferent Dietmar Jordan

Nachdem das Tor zu Lockerungen geöffnet ist, erleben wir, wie eine ohnehin schon überhitzte öffentliche Debatte noch leidenschaftlicher geführt wird. Warum dürfen z.B. Friseursalons öffnen und nicht die Gastronomie? Warum dürfen – wenn auch unter erheblichen Auflagen - Gottesdienste gefeiert werden und nicht Iftar, das gemeinsame Fastenbrechen der Muslime im Ramadan? Jetzt rufen alle möglichen Interessengruppen nach einer schnellen Berücksichtigung ihrer Belange. Und sie tun das mit meist durchaus nachvollziehbaren Argumenten.

Ziemlich viele scheinen dabei zu wissen, was gerade jetzt angesagt ist und in welche Richtung der richtige Weg führt. Das ist die Pandemie als „demokratische Zumutung“, von der die Kanzlerin gesprochen hat. Alle dürfen mitreden, dürfen Vorschläge machen und natürlich auch kritisieren. Am Ende müssen relativ wenige entscheiden – und dafür gegenüber allen Verantwortung tragen. So geht Demokratie.

Hört man in das Konzert der Stimmen, dann stehen Politiker*innen dabei unter dem ziemlich gnadenlosen Druck, möglichst alles richtig und am besten nichts falsch zu machen. Dass das Virus so neu und unkalkulierbar ist, dass es den Entscheidungsträgern und letztlich uns allen den anstrengenden Weg eines geduldig – mühsamen Suchens nach dem riskanten Prinzip von „Trial and Error“ zumutet, das scheint immer weniger wirklich begriffen, geschweige denn akzeptiert zu werden. Wo soll das schließlich auch hinführen …!?

Wer verstünde nicht all die Ängste und Sorgen?! Und wer sehnt sich nicht nach der viel beschworenen „Rückkehr zur Normalität“, besser noch: nach einer beschleunigten Entwicklung des rettenden Impfstoffs als vermeintliche Lösung aller oder zumindest der meisten Probleme? Aber kann und wird es die geben? Oder müssen wir uns nicht doch – wenn auch unter Mühen – einlassen auf jenen langsamen Weg, den es jetzt und wahrscheinlich noch lange zu gehen gilt – ohne  populäre Schnellschüsse und unter Abwägung aller halbwegs legitimen und verantwortbaren Gesichtspunkte?

Eine verantwortbare Synthese aus den Pflichten gegenüber Leben und Gesundheit, Wirtschaft und Wohlstand, Freiheit und Datenschutz - die kann nur als Prozess gelingen, der ständig überprüft und reversibel gestaltet wird. Weil in viele Entscheidungen Prognosen einfließen, deren Grundlagen unsicher sind, kann es zu Irrtümern kommen. Nicht zuletzt deshalb wird der Druck auf die Entscheidungsträger  nach meinem Eindruck täglich stärker, wahrscheinlich auch gnadenloser. Misstrauen,  Ungeduld und auch dreister Lobbyismus prägen zunehmend das Klima der Debatten.

Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass Gesundheitsminister Spahn (dem ich parteipolitisch nicht unbedingt nahestehe) kürzlich zu einer in der Politikersprache eher ungewohnten, für meine Ohren höchst bemerkenswerten Wortwahl griff: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Mit diesen Worten bat er um Verständnis dafür, dass man noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik „mit so vielen Unwägbarkeiten … so tief gehende Entscheidungen (habe) treffen müssen“. Deshalb werde neben der Politik auch für Gesellschaft und Wissenschaft eine Zeit kommen, in der man feststelle, dass man vielleicht an der einen oder anderen Stelle falsch gelegen habe.

Wir werden einander verzeihen müssen! – Vielleicht ohne es zu wollen, erinnert uns Jens Spahn daran, dass Verzeihung eben nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gemeinschaftliche, ja politische Dimension hat. Unsere christliche Tradition spricht von Vergebung und sie meint damit nicht ein wie auch immer geartetes Verständnis gegenüber dem unausweichlich begrenzten Maß unseres menschlichen Könnens. Mehr als um Ermäßigung geht es ums Einstehen und um die Übernahme persönlicher Verantwortung – und das gegen den Trend eines weit verbreiteten „Unschuldswahns“. Der sucht Schuld und Versagen immer nur bei „den anderen“ und er weist von sich weg: auf die Verhältnisse und Umstände, auf die Natur und die Strukturen.  

So halbieren wir unsere menschliche Freiheit: „die Erfolge, das Gelingen und die Siege unseres Tuns schlagen wir uns selbst zu; im Übrigen aber kultivieren wir die Kunst der Verdrängung, der Verleugnung unserer Zuständigkeit.“ So suchen wir „nach immer neuen Alibis angesichts der Nachtseite, der Katastrophen …- und …Unglücksseite der von uns selbst betriebenen und geschriebenen Geschichte.“

(Synodenbekenntnis „Unsere Hoffnung“, Würzburg 1975)

Auch die hitzigen Debatten der Corona – Krise scheinen mir in mancherlei Hinsicht von jenem heimlichen „Unschuldswahn“ befeuert, der gerne von sich weg weist und Verantwortung geschweige denn Schuld immer zuerst auf andere lädt. Dem gegenüber könnte sich der tradierte Glaube an eine Vergebung unserer Sünden als eine identitätsstärkende und zugleich -rettende Praxis erweisen. Gegen allen mit dem Sündenbekenntnis verbundenen Missbrauch vergangener Zeiten gilt: Das Festhalten an der Schuldfähigkeit des Menschen ist auch ein Beitrag im Ringen um seine Würde. Sich im Credo zur Vergebung der Sünden bekennen und diese gegenüber Gott und den Menschen erbitten: Diese religiöse Praxis erweist sich bei näherem Hinsehen als eine auch politisch hoch relevante. Sie stärkt unsere oft so brüchige und von Interessenkonflikten zerrissene Gesellschaft indem sie Menschen mit Rückgrat und aufrechtem Gang fördert. Und die brauchen wir gerade in diesen Krisenzeiten, die uns zumuten, auch weiterhin für Verständnis zu werben, Geduld zu üben und Zuversicht zu nähren.