Der tschechische Priester und Religionsphilosoph Tomáš Halík hat jüngst in einem Essay (Auf dem Weg in die Tiefe, Christ & Welt Nr.15/2020) zu deuten versucht, wie wir angesichts der Corona-Krise die Sprache Gottes in den Ereignissen unserer Welt verstehen lernen. Nicht in der Art von Unheilspropheten, die Angst verbreiten und aus der Situation religiöses Kapital schlagen wollen, sondern lernbereit und offen für eine nahe Zukunft als Kirche an der Seite der Menschen.
„Vielleicht“, so schlägt er vor, „zeigt diese Zeit der leeren Kirchen den Kirchen symbolisch ihre verborgene Leere und eine mögliche Zukunft auf, die eintreten könnte, wenn die Kirchen nicht ernsthaft versuchen, der Welt eine ganz andere Gestalt des Christentums zu präsentieren. Zu sehr waren wir darauf bedacht, dass die ‚Welt‘ (die anderen) umkehren müssen, als dass wir an unsere eigene ‚Umkehr‘ gedacht hätten – nicht nur an eine ‚Verbesserung‘, sondern an die Wende vom statischen ‚Christsein‘ zum dynamischen ‚Christwerden‘“. Zukünftig sieht Halík Christenmenschen als Suchende an der Seite der vielen Suchenden unserer Zeit. Die Ostergeste des Auferstandenen weise weg von den Gewissheiten vergangener Epochen kirchlichen Lebens - hin in die weite Welt der unruhig Bewegten, mit denen uns mehr verbinde als wir wahrhaben wollten. Dies sei das „Galiläa von heute“, in das der Auferstandene vorausgehe. Dort gelte es, ihn zu suchen und ihm neu zu begegnen: in den oft so unübersichtlichen und herausfordernden Zonen unseres Alltags. (Vgl. Mt 28,1-10)
Heute werden erste Lockerungen der Kontaktsperren möglich. Kleinere Geschäfte können wieder öffnen und manche Betriebe ihre Arbeit wieder aufnehmen. Trotzdem ist unser Leben weiterhin geprägt von den Bedrohungen und Risiken der weltweiten Pandemie. Und vieles spricht dafür, dass diese Welt sich durch all die jetzt zugespitzt sicht- und erfahrbar gewordenen Brüche und Krisen nachdrücklich verändern wird. Deshalb scheint es mir fraglich, ob es Sinn macht, allerorten vom Exit (Ausstieg) aus den krisenbedingten Einschränkungen und von der Rückkehr zur Normalität zu reden. – Kann und wird es die wirklich geben? Können wir einfach so weiter machen, als sei nichts geschehen? Geht es nicht eher um eine wirkliche Trans-formation, um eine Umwandlung und Umkehr aus Sackgassen, die sich als ausgelatscht und lebensbedrohlich erwiesen haben? Ich lasse mich durch die heute möglichen ersten Schritte zu einer angeblichen Normalität nicht täuschen. Die eigentlichen Herausforderungen stehen uns noch bevor. Und es ist keineswegs klar, ob und wie wir sie gerecht und solidarisch bewältigen werden. Das gilt für ganz viele Bereiche unseres persönlichen und gesellschaftlichen Lebens. Das gilt auch für uns als Kirche.
Ich bin mir nicht sicher, ob es gut war, dass unsere Autoritäten nach dem 15.4. etwas verstimmt, aber umso bestimmter die baldige Rückkehr zu einer jetzt möglichen gottesdienstlichen Normalität angemahnt haben. War und ist das ein glaubwürdiges Zeichen in einer Gesellschaft, die jetzt von allen, mindestens von möglichst vielen einen spürbaren Beitrag zum Gemeinwohl abverlangt? Auch wenn eifernde Fundamentalisten anderes behaupten: Die Religionsfreiheit war zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt oder ernsthaft beschädigt. Wer es wollte, konnte - anders als bisher gewohnt - neue und kreative Erfahrungen geistlicher Gemeinschaft machen.
Auch mir ist liturgisches Feiern kostbar und wertvoll. Trotzdem frage ich mich: Ist der öffentliche Sonntagsgottesdienst wirklich „die erste Priorität kirchlichen Handelns“? Ist Liturgie wirklich „systemrelevant“, wie man jetzt hören konnte? Ist sie die „eigentliche Kernkompetenz kirchlichen Dienstes“? Oder zeigt sich in solchen Wortmeldungen nicht wieder die verbrauchte Fixierung auf das sakramental – liturgische Feiern? Gibt es nicht nach dem Sonntag auch einen Alltag, den es mit glaubwürdigen Zeugnissen der Nächsten- und Fernstenliebe zu prägen und mit klug - inspirierenden Einmischungen in den gesellschaftlichen Diskurs zu gestalten gilt? Haben nicht viele Christenmenschen (und damit Kirche!) gerade in diesen Krisentagen auf solchen Feldern wirkliche Kernkompetenzen bewiesen? Wollen wir wirklich zurück zur Konzentration (fast) aller Kräfte auf die sonntäglichen „Rest-Gemeinden“ und ihre gut-bürgerlichen Milieus? Was ist mit all den anderen Getauften, mit denen, die längst nicht mehr kommen, weil sie in den nicht selten klerikal abgehobenen Liturgien und in den engen Gemeinde – Zirkeln ihr Leben nicht mehr wiederfinden? Und was ist mit unserer weitgehend entchristlichten Gesellschaft, mit Politik und Wirtschaft, mit Wissenschaft und Kultur? Sie alle sitzen mit uns in einem Boot. Und sie werden – vielleicht mehr als zuvor – um Wege und Gestaltung eines gerechten und solidarischen Zusammenlebens ringen. Ihnen allen (und eben nicht nur den „Sonntagschristen“!) schulden wir als Kirche die Hoffnungsbotschaft des Auferstandenen.
Auch das hat Bischof Bätzing in seiner Osterpredigt schön gesagt: Jetzt „in der Krise sind wir einander nah. Wir haben es in der Hand, ob wir diese geschenkte Nähe festigen und zusammenrücken oder wieder auseinanderdriften.“ Wir sollten jetzt nicht den Eindruck erwecken, Kirche sei erst dann wieder „komplett“, wenn das Glöckchen an der Sakristei-Tür klingelt.