Nach dem vorläufigen Ende des kollektiven Shutdowns sind wir vielerorts dabei, so etwas wie eingeschränkte Normalität einzuüben. Dabei geht es den einen nicht schnell genug, während andere noch zögern und zu vorsichtiger Zurückhaltung raten. Ich möchte mich vom eifrigen Streit der mit Nachdruck vorgetragenen Positionen nicht täuschen lassen. M.E. leben alle Einschätzungen überwiegend von Wahrscheinlichkeiten. Gewissheit über die Richtigkeit des von ihnen eingeschlagenen Weges hat letztlich niemand. Fest steht: Nach der Aufhebung der strengen Einschränkungen ist (wieder) jede und jeder vorrangig selbst verantwortlich für seine und ihre Gesundheit und Lebensart: physisch, psychisch, ethisch und natürlich auch spirituell.
Eigentlich bräuchten wir jetzt mehr Zeit und Geduld, um miteinander darüber nachzudenken, was diese virusbedingte Krise eigentlich in ihrer Tiefe für uns bedeutet. In kleinen und großen Runden müssten wir darüber sprechen, wie wir mit den in der Unterbrechung zu Tage getretenen Herausforderungen umgehen wollen: Ob und wie wir sie verstehen. Was wir aus ihnen lernen. Und was wir ändern wollen – kurzfristig und langfristig; persönlich, gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich, kulturell und natürlich auch kirchlich.
Die Fülle der nach dem Shutdown zu bewältigenden Alltagspflichten und auch die weiter bestehenden Einschränkungen unserer nicht – digitalen Kontakt- und Begegnungsformate dürfte die Chancen solcher eher langfristig angelegten Suchprozesse nicht gerade fördern. Ungünstig wirkt auch das bei vielen Menschen ausgeprägte (mitunter nachvollziehbare) Bedürfnis, möglichst bruchlos und verblüffungsfest an die schon vor Corona bestehende Tagesordnung anzuknüpfen. Auch die jetzt v.a. aus Wirtschaftskreisen immer öfter zu hörenden Rufe nach möglichst bedingungslosen staatlichen Subventionen zur Ankurbelung abwegig unökologischer Verbrauchergewohnheiten zeugen nicht gerade von nachhaltigem Problembewusstsein. Von den neuerlichen Kundgebungen ignoranter Verschwörungstheoretiker und angeblich wütender „Freiheitsverteidiger“ mag ich gar nicht reden. Schlimm genug und beschämend, dass deren Gesinnungen neuerdings sogar aus reaktionären Kreisen höchster kirchlicher Würdenträger befeuert werden. Trotzdem hängt eben gerade im Zeitalter der Globalisierung alles mit allem zusammen. Eben solche Abhängigkeiten und Zusammenhänge wären gerade jetzt noch einmal genauer in den Blick zu nehmen und da, wo es nötig ist, auch in Frage zu stellen.
Als Christ und Theologe sehe ich für mich v.a. drei Ebenen eines solchen Reflexionsprozesses. Da ist zunächst einmal die Persönliche: Sie fragt nach meiner persönlichen Lebensart, nach den Werten und Überzeugungen, aus denen ich mein Leben gestalte, nach meinen bewussten oder unbewussten Verstrickungen in ungerechte, unökologische und ungesunde Denk- und Verhaltensmuster, nach meinen Möglichkeiten, gutes Leben zu fördern, nach dem Potential meiner Widerstandskraft angesichts vielfältiger destruktiver Mächte.
Als zweites sehe die gesellschaftlich – politische Ebene. Sie fragt nach der Art und Weise unseres Zusammenlebens, nach der Qualität unserer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, nach unserer Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Erhaltung unserer natürlichen Mitwelt, nach einer angemessenen Balance zwischen individuellen Freiheitsrechten und notwendigen Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwohl.
Als dritte Ebene sehe ich die Frage nach Botschaft und Praxis des Christentums – hier bei uns und in weltweitem Kontext und globaler Verantwortung, die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Gestaltungskraft seiner Hoffnungsbotschaft, die Frage nach den Trägern und Subjekten dieser Botschaft, die nach unserer Zukunft als Kirche in einer weitgehend säkularisierten und hochgradig individualisierten Gesellschaft, nach der Gestaltung unseres kirchlichen Lebens, dem Format unserer Gemeinden und Institutionen, Dienste und Ämter.
Die Beachtung und Bearbeitung dieser ja nur angedeuteten Herausforderungen scheint mir eine wirklich geistliche Herausforderung und eine evangeliumsgemäße Antwort auf die uns – vielleicht auch von Gott – zugemuteten „Zeichen der Zeit“ zu sein. In diese Richtung scheint mir auch die Meditation der Schrifttexte des (gestrigen) 5. Sonntags der Osterzeit zu weisen. Von Christus „auferbaut zu einem geistlichen Haus“ und „zu einer heiligen Priesterschaft“ berufen, sollen wir (d.h. alle Getauften und Gefirmten, nicht nur die ordinierten Amtsträger!) „lebendige Steine“ im Haus Gottes und seiner Kirche sein. (1 Petr 2,5) Die Zukunft dieses Hauses ist aber nicht zu verwechseln mit der offensichtlich verblichenen Pracht einer in vergangenen Zeiten „als Haus voll Glorie“ in die Landschaft schauenden Kirchenherrlichkeit. Sein Leben wird auch nicht durch die konservatorischen Initiativen eines wohlmeinenden kirchlichen Denkmalschutzes gesichert. Schon eher sehe ich sie angedeutet im johannäischen Bild des offenen Himmels, in dem es bekanntlich viele Wohnungen gibt (Joh 14,1) und zu dem wir in einer Art bleibender Fremdheit und im Provisorium gegenüber den Verlockungen einer saturierten Heilsgewissheit unterwegs sind.