Etty Hillesum - Das denkende Herz der Baracke:Impuls für September

„Das denkende Herz“
Als ich mich vorhin an meinen Schreibtisch setzte, fiel mein Blick auf das Tagebuch von Etty Hillesum.
In ihren Tagebüchern entfaltet sich die Geschichte einer 27jährigen Frau aus den Jahren 1941 - 1943, also den Kriegsjahren, Jahre der persönlichen Entwicklung und paradoxerweise der Befreiung. Es waren jene Jahre in denen Juden in Europa verfolgt und ermordet wurden. Etty Hillesum war Jüdin und wurde in Auschwitz am 30. November 1943 mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern umgebracht.
In dem Versuch, ihre Bindung zu einer „wild durcheinander geworfenen Welt“ nicht zu verlieren, sucht sie nach den Quellen ihrer Existenz und findet schließlich zu einer Lebenshaltung, die ein Bekenntnis zu einer radikalen Uneigennützigkeit ist. Die letzten Worte in ihrem Tagebuch lauten: „Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein“.
Diese Frau ist für mich eine der faszinierendsten Persönlichkeiten, eine Frau, die auch uns, für unsere Zeit enorm viel zu geben hat. In der Feldpredigt Jesu heißt es: „liebt die, die euch hassen.“ Unerfüllbar denken wir - und es ist auch unsagbar schwer. Aber diese jüdische Frau hat dies unter unmenschlichen Umständen gelebt. Ich möchte Etty zu Wort kommen lassen mit Ausschnitten aus ihrem Tagebuch, und ich werde dies kommentarlos tun, denn die Zeilen sprechen für sich:
„... Und wenn vom Ausrotten die Rede ist, dann sollte das Böse im Menschen und nicht der Mensch ausgerottet werden.
Außerdem an diesem Morgen: die überaus starke Empfindung, dass ich trotz allen Leides und Unrechts, das überall geschieht, die Menschen nicht hassen kann, und dass all das entsetzliche und grauenvolle Geschehen nicht etwas geheimnisvoll Fernes und Drohendes von außen ist, sondern uns sehr nahesteht und aus uns Menschen hervorgeht....
... Die Bedrohung von außen wird ständig größer, der Terror wächst mit jedem Tag. Ich ziehe das Gebet wie eine dunkle schützende Wand um mich hoch, ziehe mich in das Gebet zurück wie in eine Klosterzelle, und trete dann wieder hinaus, „gesammelter“, stärker und wieder gefasst...
Gut, diese neue Gewissheit, dass man unsere totale Vernichtung will, nehm ich hin. Ich weiß es nun. Ich werde den anderen mit meinen Ängsten nicht zur Last fallen, ich werde nicht verbittert sein, wenn die anderen nicht begreifen, worum es bei uns Juden geht.... Ich arbeite und lebe weiter mit derselben Überzeugtheit und finde das Leben sinnvoll, trotzdem sinnvoll, auch wenn ich mich das kaum noch in Gesellschaft zu sagen getraue....
In einem ihrer letzten Briefe aus dem Übergangslager Westerbork schreibt sie an ihre Freunde:
„... Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir in die Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herz herauf - ich kann nichts dafür, es ist nun einmal so, es ist von elementarer Gewalt - : Das Leben ist etwas herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen - und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen. Wir dürfen zwar leiden, aber wir dürfen darunter nicht zerbrechen. Und wenn wir diese Zeit unversehrt überleben, körperlich und seelisch unversehrt, aber vor allem seelisch, ohne Verbitterung, ohne Hass, dann haben wir auch das Recht, nach dem Krieg ein Wort mitzureden. Vielleicht bin ich eine ehrgeizige Frau: Ich möchte ein sehr kleines Wörtchen mitreden....
Etty möchte „das denkende Herz der Baracke“, sein.
Gewiss können wir diese Frau nicht nachmachen - aber wieder vermehrt mit dem Herzen denken wäre Balsam für unsere wunde Zeit.
Sr. M. Dolores Haas SPSF