Da rief Adonaj, also Gott, den männlichen Menschen herbei und sagte zu ihm: »Wo bist du bloß?« Der sagte: »Ein Geräusch von dir habe ich im Garten gehört und mich gefürchtet, denn ich habe nichts an und da habe ich mich versteckt«. Darauf: »Wer hat dir denn gesagt, dass du nichts anhast? Hast du etwa von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, ja nicht zu essen?« Da sagte der Mann-Mensch: »Die Frau, die du mir doch an die Seite gegeben hast, die hat mir von dem Baum gegeben. Und da habe ich gegessen.« Da sagte Adonaj, also Gott, zur Frau: »Was hast du da getan?« Und die Frau sagte: »Die Schlange hat mich getäuscht, so dass ich gegessen habe.« Da sprach Adonaj, also Gott, zur Schlange: »Weil du das getan hast, bist du verflucht – als Einziges von allem Vieh und von allen Tieren des Feldes. Auf deinem Bauch sollst du kriechen und Erde essen dein Leben lang Feindschaft stifte ich zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs. Der wird deinen Kopf angreifen, du wirst seine Ferse angreifen.«
Genesis, Kapitel 3, Verse 9-15
Gerade bei einem so bekannten Text wie dem alttestamentlichen Text für diesen Sonntag lohnt sich nochmal ein genauerer Blick. Man liest sonst leicht Manches hinein, was da gar nicht steht.
Für die heutige Lesung wurde ein Ausschnitt aus der Erzählung vom Anfang von allem gewählt. Würde er einen Satz eher einsetzen, wäre auch das Gesamtsetting noch zu hören, wie es in Vers 8 erzählt wird: "Und sie hörten den Klang Gottes-der-Ewigen, umhergehend im Garten im Geistwehen des Tages, und sie versteckten sich, der Mann-Mensch und seine Frau, vor dem Angesicht Gottes-der-Ewigen zwischen den Bäumen des Gartens." Gott singt, und der Garten ist ein schöpferischer Ort, wo die Geistkraft Gottes weht, denn es ist die gleiche Geistkraft wie die im Lied-vom-Anfang, Genesis 1: Und die Geistkraft Gottes wehte über den Wassern.
Aber es ist kein harmloser Ort. Harmlosigkeit ist nicht schöpferisch. Gott-die-Ewige hat den Konflikt selbst in den Garten gebracht durch das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Es ist unklar, ob die Menschen vor dem Erkennen von Gut und Böse - also von allem, was ist - sterblich sind oder nicht. Das Experiment ist nicht umkehrbar, es lässt sich nicht mehr sagen, ob die Menschen, hätten sie die Frucht nicht gegessen, unsterblich gewesen oder geblieben wären. Der Mythos beantwortet so die Frage nach der menschlichen Geschichte: Ohne die Freiheit, Erfahrungen zu machen, ohne die es keine Erkenntnis gibt, passiert nichts. Es gibt weder Gespräch noch Handlung, keine Spannung und damit ist es letztlich egal, ob die Menschen sterblich sind oder nicht, denn es ist immer der gleiche Tag wie in "Täglich grüßt das Murmeltier". Mit in diesem Garten sind auch die kulturellen Bilder, die zur Entstehungszeit des Textes geläufig waren: Die Mächte des Chaos', die als Drache oder Schlange verbildlicht werden, und ihre Verbindung mit der Vorstellung von ewiger Jugend oder Unsterblichkeit, weil sie sich häuten kann .
Nun aber gab es ein Gebot, damit eine Möglichkeit zur Freiheit, und nun nehmen die Dinge Fahrt auf. Bekanntermaßen hatte die Schlange, oder genauer: der Schlang (mehr dazu hier: Beitrag zum ersten Fastensonntag, Lesejahr A), der Frau eine Fangfrage gestellt ("dürft ihr wirklich von keinem Baum essen?") und der Frau schließlich die Übertretung des Gebots schmackhaft gemacht. Und auf der rein sprachlichen Ebene kann der Schlang sich tatsächlich herausreden: Er hat letztlich nichts falsches versprochen. Die Menschen sterben nicht direkt an der Frucht, kein Schneewittchen-Effekt also. Und sie erkennen: ihr eigenes Nacktsein, was im Hebräischen fast wortgleich mit "klug" ist (ebenfalls nachzulesen im Beitrag zum ersten Fastensonntag, Lesejahr A). Aber der Schlang, der doch klüger war als alle Wesen, die Gott gemacht hatte, vielleicht sogar klüger als die Menschen, hat die Frau nicht gewarnt. Die Schlange ist in allen altorientalischen Kulturen mit der Weisheit verknüpft und hätte also die Übersicht gehabt, um die Schattenseiten der Erkenntnis zu kennen, und hat sie verschwiegen - wohingegen die Frau diese Schattenseiten erst kennen kann, nachdem sie das Gebot übertreten hat. Eine der Folgen ist: Die Menschen können mit dem, was sie erkennen, Gott nicht mehr unter die Augen treten. An dieser Stelle setzt die heutige Lesung ein.
Gott ruft den Menschen und der Mensch erklärt, warum er sich versteckt. Gott klagt darauf nicht an, sondern fragt eine Frage, die zur Selbsterkenntnis führen könnte. Und der Mann-Mensch antwortet, ist aber nicht bereit, sich auf den Konflikt mit Gott einzulassen, sondern macht nach dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung" indirekt Gott selbst für das verbotene Essen verantwortlich: Schließlich hat Gott ihm ja die Frau gegeben, oder? Gott geht aber nicht weiter mit dem Mann-Menschen ins Gespräch, sondern fragt die Frau - aber nicht nach dem Warum, sondern "Was hast du getan?".
Man kann darin eine Anklage hören. Ebenso ist es aber auch möglich, darin zu hören, dass Gott nicht einfach der Anschuldigung glaubt, sondern die Frau selber zu Wort kommen lassen will, oder zumindest unterstellt, dass die Frau nicht einfach so das Gebot übertreten hat. Die Frau begründet, warum sie gegessen hat, erwähnt aber nicht, dass auch der Mann-Mensch gegessen hat. Interessant bleibt, dass sie die Rede des Schlangs als Betrug beschreibt. Dabei hat der Schlang ja strenggenommen gar nichts falsches gesagt. Aber es ist offensichtlich, dass hier etwas passiert ist, das nicht mehr rückgängig zu machen ist. Das Misstrauen, einmal in der Welt, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Und die Frau trifft diesen Sachverhalt sehr genau, wenn sie sagt, der Schlang habe sie überlistet.
Tragisch bleibt, dass die Erkenntnis nicht so vollständig ist wie gedacht. Vielleicht geht sie wirklich nicht über die erste Erkenntnis der eigenen Nacktheit hinaus. Sonst hätte der Mann-Mensch ja die Größe der Selbsterkenntnis gehabt, die er grandios verfehlt, indem er sich der an ihn gestellten Frage entzieht und statt dessen alle möglichen Anderen verantwortlich macht, nämlich die Frau und Gott als deren Schöpfer*in, und dabei beide Auslöser des Konflikts übersieht, nämlich das göttliche Gebot und die Fangfrage des Schlangs.
Das ursprüngliche Vertrauen in die Güte Gottes ist aber auch bei ihm erkennbar gebrochen, das zeigt sowohl seine Furcht als auch sein Verdacht, Gott könnte ihm eine Partnerin gegeben haben, die sich als schädlich erweist. Das Säen des Zweifels und des Misstrauens, der Betrug, der Selbstbetrug und die Illoyalität bleiben die Achillesfersen des Menschen: Hier trifft der Schlang den schwachen Punkt.
Die mythische Erzählung benennt so sehr genau, was auch uns noch angeht, und geht weit tiefer als ein "Wer war schuld"-Diskurs: Erkenntnis ist nicht harmlos. Ohne die Sterblichkeit können die Menschen nicht zu sich selber kommen - und ohne Erkenntnis können sie nicht in dem Sinn sterblich sein, dass sie um ihre eigene Endlichkeit wüssten. Das Begreifen der eigenen Endlichkeit mach diese erst in einer neuen Weise real, und wenn sie einmal realisiert ist, lässt sich dieses Wissen nicht mehr ungewusst machen. Es gibt Dinge, hinter die gibt es kein Zurück mehr, aber Gott bleibt in alldem anwesend.