Am Anfang des dritten Monats nach dem Auszug aus Ägypten erreichte Israel die Wüste Sinai, es war genau am ersten Tag. Sie waren von Refidim aus in Richtung Sinai gewandert und schlugen nun ihre Zelte in der Wüste, vor dem Gottesberg auf. Mose stieg zu Gott hinauf. Er rief ihm vom Berggipfel her zu: "Das sollst du den Nachkommen Jakobs, allen Israelitinnen und Israeliten, mitteilen: Ihr habt miterlebt, wie ich Ägypten behandelt habe. Euch aber habe ich wie auf Adlerflügeln [besser: Geierflügeln, AJ] hierher zu mir gebracht. Wenn ihr jetzt auf mich hört und euch an meine Bundessatzung haltet, dann werdet ihr unter allen Nationen mein bevorzugtes Eigentumsvolk sein, denn mir gehört die ganze Welt. Ihr seid für mich ein priesterliches Volk, eine heilige Gemeinschaft."
(Buch Exodus, Kapitel 19, Verse 1-6)
Gott sei wie ein Adler, übersetzen viele Bibelausgaben, und so ist es auch in unsere Lieder eingegangen. "Lobe den Herren,den mächtigen König der Ehren... der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet", dichtet der evangelische Pastor Joachim Neander im 17. Jahrhundert in einer Übertragung von Psalm 103. (Der Name "Neander" war übrigens eine Übersetzung des Nachnames Neumann ins Griechische, wie es damals modern war. Nach Joachim Neander wiederum ist das Neandertal bei Düsseldorf benannt. Es mit ihm verbunden, weil er, der Pastor und Lehrer der alten Sprachen, dort häufig für seine Schüler*innen Erbauungsstunden abhielt, während er in den offiziellen Gottesdiensten fernblieb, weil er dort „Leben, Geist und Feuer“ vermisste.)
Joachim Neander als Fan der griechischen Antike übernahm hier deren Hochschätzung des in ihren Augen königlichen Adlers, zusammen mit der Geringschätzung der Geier. Damit findet er sich in Gemeinschaft der ersten griechischen Übersetzer der Hebräischen Bibel, die es genauso gehalten haben. Unsere deutschen Übersetzungen folgen dem meist.
Ein genauerer Blick bringt aber andere Einsichten: Das fragliche Wort "Näsär", das die griechischen Übersetzer der Hebräischen Bibel wie auch Joachim Neander mit "Adler" übersetzen, kommt an verschiedenen Stellen der Bibel vor, und da finden sich dann unter anderem Beschreibungen seines kahlen Kopfes - so kahl wie dieser Vogel soll Israel zum Beispiel als Zeichen der Trauer seinen Kopf scheren, so der Prophet Micha (Mi 1,16) - oder seines Nestes "zwischen den Sternen" (Obadja 4), und vor allem sein fürsorgliches Aufzuchtsverhalten wie hier in Exodus 19.
Adler sind im damaligen Palästina selten, kahlköpfig sind sie auch nicht, und für Adler gibt es zudem eine eigene Vokabel, nämlich 'Ajit. Häufig aber und vom Aussehen her passend sind Gänsegeier, die korrekte Übersetzung des Wortes "Näsär", das auch weit häufiger in der Bibel vorkommt als 'Ajit - und Gänsegeier trifft man auch heute noch in der israelischen Negev-Wüste an.
Anders als in der Griechischen Antike wurden Geier im Alten Israel und seiner Umwelt nicht abgewertet, sondern eher bewundert: Weil sie so wahnsinnig schnell werden können, wenn sie im Sturzflug auf Nahrung herabstoßen, weil sie eine riesige Flügelspannweite von fast drei Metern haben und auf den Aufwinden der Wüste scheinbar mühelos und unglaublich ausdauernd kreisen können, weil sie für Entschlossenheit und für jugendliche Kraft stehen, und weil sie ihre Jungen so fürsorglich aufziehen. Junge Gänsegeier sind Nesthocker, sie lernen erst mit etwa fünf Monaten zu fliegen. Da ein Gänsegeierpaar - sie bleiben, haben sie einmal zusammengefunden, lebenslang als Paar zusammen - im Jahr nur jeweils ein Jungtier aufzieht, können die Eltern dem Jungvogel geduldig das Fliegen beibringen. Sie flattern über ihm, während er seine Flugversuche macht, und wenn er abzustürzen droht, fliegen sie unter ihn und lassen ihn auf den eigenen Flügeln landen. So ist Gott für die Menschen, und das ist ein berührendes Bild - "Adlers Schwingen" klingen, meine ich, nach unseren Hörgewohnheiten deutlich unnahbarer als die Flügel von Gänsegeier-Weibchen.
"Ihr habt miterlebt, wie ich Ägypten behandelt habe. Euch aber habe ich wie auf Geierflügeln hierher zu mir gebracht": In diesem Bild lebt Gott auf dem Sinai, wie auch Gänsegeier in Felshöhen nisten, und trägt ihre in Ägypten gefährdeten Jungen auf ihren Flügeln zum Gottesberg, also gleichsam nach Hause - bis der Jungvogel weiterzieht ins verheißene Land. Gott bleibt treu, und es geht ums Fliegenlernen, um Freiheit in einer großen Weite.
Zum vollständigen Bild gehört noch, dass Gänsegeier in der Hebräischen Bibel als unrein bezeichnet werden. Hier klingt noch nach, dass es in der Umwelt Israels Geierkulte gab (Adlerkulte übrigens nicht), und die Geier zwar einerseits für Gottes Macht stehen, andererseits aber gerade darum gemieden werden, weil göttliche Präsenz immer auch etwas gefährliches ist - und weil man sich von den Götter- und Göttinnenkulten der Umgebung abzugrenzen begann. In der Bibel gibt es wesentlich mehr als Schwarz und Weiß und eindeutige moralische Bewertungen. Rein und unrein sind keine moralischen Kategorien, wie wir es christlich heute oft hören - Kontakt mit einem toten Körper macht z.B. auch unrein, Tote zu bestatten ist aber eine wichtige religiöse Pflicht. Rein und unrein hat mit der Grenze zwischen Leben und Tod zu tun, die gefährlich ist, und auf der sich Geier als Aasfresser gewohnheitsmäßig aufhalten - auch das mag ein Grund sein, warum er als Bild für Gott gut geeignet schien. Wenn man mit dieser Grenze zwischen Leben und Tod in Kontakt kommt, wie es geschieht, wenn man mit Menstruationsblut, Samenflüssigkeit oder eben einem Leichnam in Berührung kommt, dann braucht es ein Reinigungsritual, um wieder auf die sichere Seite des Lebens zu gelangen. Mit gut oder schlecht hat das nichts zu tun. Erst in der Christentumsgeschichte wurde aus den Kategorien von rein und unrein eine moralische Bewertung, und das wiederum war Nährboden für die Abwertung alles Sexuellen, für die verheerenden Folgen dieser Verdrängung und für eine Frauenverachtung, die so normal geworden ist, dass man sie in der Regel gar nicht mehr wahrnimmt. Bei Gänsegeiern sehen weibliche und männliche Vögel übrigens gleich aus. Gott hat es offenbar nicht nötig, sich in eindeutige Bilder zu kleiden.