Am Abend jenes Tages sagte er zu ihnen: »Lasst uns ans andere Ufer fahren.« Sie schickten die Volksmenge weg und nahmen ihn so, wie er war, im Boot mit. Weitere Schiffe begleiteten das Boot. Da kam ein heftiger Sturmwind auf, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass es voll Wasser lief. Jesus lag im Heck und schlief auf einem Kissen. Sie weckten ihn und riefen: »Lehrer, machst du dir keine Sorgen, dass wir dabei sind unterzugehen?« Der Aufgeweckte drohte dem Wind und sagte zum See: »Schweig! Sei still!« Da legte sich der Wind, und es wurde völlig still. Er fragte sie: »Was fürchtet ihr euch? Habt ihr noch kein Vertrauen?« Nun ergriff sie große Ehrfurcht, und sie sprachen zueinander: »Wer ist das, dass selbst Wind und See ihm gehorchen?«
(Markusevangelium, Kapitel 4, Verse 35-41)
Wenn das Boot auf dem Meer - und jede*r weiß, dass auch ein kleines Meer dämonische Kräfte hat, auch das Galiläische Meer -, wenn das Boot auf dem Meer in einen Sturm gerät und das Meer zum Chaoswasser wird, wenn das feste Holz keine Sicherheit mehr gibt, wenn nicht mehr die Geistkraft Gottes über dem Wasser braust, sondern ein vernichtender Sturm, wenn alle Hoffnung im kalten Finsterwasser untergeht, und dann kommt einer und befiehlt dem Sturm Schweigen: Was daran ist eine gute Nachricht für heute?
Der da befiehlt, er musste erst geweckt werden, denn er hatte seelenruhig geschlafen, geschlafen wie ein Stein, geschlafen wie tot. Darum schreibt Markus auch vom "Aufgeweckten": "Der Aufgeweckte drohte dem Wind."
Von Jesus-dem-Lebendigen sprechen wir auf Deutsch zumeist als "Auferstandenem", mit einem Sonderwort, das wir für diesen Glauben reserviert haben: auferweckt werden, auferstehen. Das Griechische kommt hier bescheidener, weil alltäglicher daher. Wer schläft, wird aufgeweckt. Wer liegt, steht auf. Wer im Todesschlaf liegt, wird aufgeweckt. Wer tot am Boden liegt, wird aufgestanden. Das ist das gleiche Wort, und es wird jeweils wirklich so im Passiv benutzt: Aufgestanden werden. An wem das getan wird, die ist eine Aufgestandene, der ist ein Aufgestandener.
Im Deutschen sprechen wir mit einer besonderen Sprache, wenn es darum geht, was nach dem Sterben mit dem Leben geschieht: Auferstehen, auferwecken, und oft klingt es nach einem Tun aus eigener Kraft. Aber die Toten stehen nicht aus eigener Kraft auf. Im Sterben ist das Leben darauf angewiesen, bewahrt zu werden. Weil wir ein Sonderwort für das Aufgestandensein benutzen, können wir leicht überlesen, wer hier im Boot zugegen ist: Der Aufgeweckte, der Aufgestandene befiehlt dem Sturm, und der Sturm schweigt. Und natürlich ist das kein Zufall, sondern soll ganz bewusst die Erfahrung mit Jesus-dem-Lebendigen vorwegnehmen - oder besser: die zuvor erzählte Geschichte vom Ende des Evangeliums her in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Der See Genezareth, das Galiläische Meer, ist zur Abfassungszeit keine Idylle, sondern Schauplatz eines Kriegsverbrechens, einer Völkerkatastrophe. Im Jüdischen Krieg, der im Jahr 66 als Aufstand gegen die römische Herrschaft begann und im Jahr 70 in einem fürchterlichen Massaker und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels endete, war er Ort einer Schlacht: Von Taricheai aus - der griechische Name des Ortes Magdala, Herkunftsort von Maria, der Lieblingsjüngerin Jesu - hatten sich Aufständische vor den römischen Truppen auf den See gerettet. Diese aber bauten Flöße und setzten ihnen nach, und weitere Truppen erwarteten die Entkommenden am Ufer, aber nicht mit Rettung, sondern wer nicht tot ans Ufer gespült wurde, wurde dort abgeschlachtet. 6500 Tote sollen es gewesen sein, ungefähr so viele wie eine ganze römische Legion, der See rot von Blut, die Ufer übersäht mit Leichen und Schiffstrümmern, und in der Hitze des Tages wurde daraus schnell die Hölle auf Erden. Dieses Todesmeer hat Markus vor Augen, wenn der Aufgestandene dem Sturm befiehlt: Schweig.
Die Wortgleichheit im Kapitel über das, was zu erzählen war vom ersten Tag der Woche nach dem Karfreitag, und diesem Kapitel vom Sturm auf dem See, in dem Jesus aufgeweckt wird von der Todesangst seiner Freund*innen, legt diese Lesart schon nahe.
Noch näher liegt sie, wenn man zwei wichtige Achsen des Markusevangeliums beachtet: Der Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem zeichnet genau den Weg nach, den die römischen Truppen im Jüdischen Krieg nehmen, angefangen von Caesarea Philippi, wo Petrus Jesus zum ersten Mal "Messias" nennt und wo Kaiser Vespasian sich zum Cäsar ausrufen lässt - Vespasian, der seinen Vater vergöttlichen ließ und sich damit selber zum Gottessohn erklärte, bis zu Jerusalem, inklusive der Pause im Geschichtsverlauf vor Jerusalem, die auch der Jüdische Krieg machte. Und: Das Sterben Jesu ist im Markusevangelium als Zurücknahme des Schöpfungsgesangs gestaltet. Die Geistkraft, die über den Wassern brauste, verlässt Jesus. Das Licht, erstes Schöpfungswerk, weicht dem Dunkel. Und anders als bei der Taufe und auf dem Berg der Verklärung kommt nun, beim dritten und entscheidenden Mal - in jeder Geschichte ist die dritte Probe die entscheidende - keine bestätigende Stimme vom Himmel, sondern schreit Jesus in Gottes Schweigen hinein. Nur der römische Hauptmann, Vertreter derer, die diesem Volk das Ende zu bereiten versuchen, er hat das letzte Wort: Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn.
Nur im Sprung des Glaubens ist angesichts dieser Zerstörung noch Trost zu finden, im Ausgreifen auf eine Hoffnung-trotz-allem, die mitten in der Zerstörung einen Neuanfang wagt und das Evangelium noch einmal von vorne liest, so wie es auch jüdische Gottesdienstpraxis ist: Wenn das Ende der Torarolle erreicht ist, wird auch gleich wieder der Anfang gelesen. Mit dieser Lesepraxis erklärt sich auch der merkwürdige Anfang des Markusevangeliums, der ansonsten überflüssigerweise darauf verweist, ein Anfang zu sein, welches Buch tut das sonst? "Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich. Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus, dem Christus, dem Messias und Kind Gottes." In Erstarrung und Leere, in der Todeswüste vor Jerusalem - die römischen Truppen hatten kilometerweit im Umkreis alle Bäume gefällt -, dort ist der Anfang des Evangeliums, der Botschaft von Jesus, dessen Name übersetzt heißt: Rettung, Befreiung. Das ist keine Botschaft für sichere Zeiten. Sie muss sich als tragfähig erweisen angesichts der Verheerung der Niederlage im Jüdischen Krieg, und das tut sie, indem sie kein happy end erzählt, aber die Geschichte nach vorne offen lässt. Wenn die Freunde Jesu vor der Gewalt fliehen, wenn die Freundinnen mit aushalten, aber am Ende sprachlos bleiben, dann liegt es an den Leser*innen, dem Evangelium seinen Schluss zu geben.
Der See also, das Galiläische Meer, es verkörpert die gottesfeindlichen Kräfte der Dämonen, die allein Jesus im Markusevangelium zuverlässig erkennen. Hier gerät die Welt aus den Fugen. Tausende sind hier abgeschlachtet worden, und die Freund*innen Jesu in den Booten schreien an ihrer Stelle: "Kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?" Sie schreien für alle, die unter Gewalt leiden, unter Ungerechtigkeit und Vernichtung von allem, was sie ausgemacht hatte. "Kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?" Sie bekommen keine Antwort. Aber der aufgeweckt worden war, befiehlt dem Sturm Schweigen, und es kehrt Stille ein.
In diese Stille hinein fragt der Aufgestandene: "Was seid ihr furchtsam?" Was für eine Frage! Ist nicht mehr als genug Grund zur Furcht gegeben?
Aber wenn das nicht alles ist.
Wenn die tödliche Gewalt nicht das letzte Wort behält.
Wenn am Ende Gott das letzte Wort hat.
Wenn dieses Wort heißt: Rettung. Befreiung.
Und wenn damit etwas neues beginnt, vielleicht.
Dann könnte eine Antwort darauf vielleicht lauten: Wenn du nur da bist, und ich meiner Angst deinen Glauben entgegensetzen kann - dann nicht.
Zum Weiterlesen:
https://glaubenssache-online.ch/2019/10/16/das-markusevangelium/
https://www.ref.ch/news/eine-neue-lesart-des-markusevangeliums/