Freut euch mit Jerusalem und jauchzt alle, die ihr sie liebt!
Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr um sie trauert!
Weil ihr saugen dürft und euch sättigen an den Brüsten ihres Trostes,
weil ihr schlürfen dürft und euch erquicken an den Brüsten ihres Glanzes. Denn so spricht Gott: Ich breite bei ihr Frieden aus wie einen Strom und wie einen überschäumenden Bach den Reichtum der fremden Völker.
Ihre Säuglinge sollen auf der Hüfte getragen und auf den Knien geschaukelt werden.
Wie [einen s]eine Mutter tröstet,
so will ich euch trösten, und an Jerusalem sollt ihr getröstet sein.
Buch Jesaja, Kapitel 66, Verse 10-14
Die prophetische Stimme spricht in eine Zeit der Verlorenheit hinein: Nach Krieg, Vertreibung, Zerstreuung, nach Hoffnungslosigkeit und Verlust der Gottesnähe spricht sie von Heimholung, von Frieden und Fülle, die von Gott kommen. Jerusalem symbolisiert hier Land und Volk Israel, als weibliche Figur wie viele Städte im antiken vorderen Orient. An ihr spielt sich mit Gewalterfahrung und Unterdrückung das Unheil genauso ab wie die Rettung - auch die Rettung und die Fülle werden mit weiblichen Bildern gezeichnet.
"Weil ihr schlürfen dürft und euch erquicken an den Brüsten ihres Glanzes" ließe sich auch übertragen mit "Damit ihr melken und erfreut sein könnt über den strahlenartigen Fluss ihrer Fülle". Wie das Naturbild vom überschäumenden Fluss spricht auch dieses Bild von Fruchtbarkeit und Sättigung. Und wie der Fluss mit der Fruchtbarkeit den Frieden bringt, so bringt auch die Muttermilch beides: Sättigung und Frieden - der Säugling wird gestillt. Das ist aber nicht nur zaghaftes Nuckeln, sondern die Muttermilch fließt gewaltig - Mutterschaft ist hier nicht harmlos und lieb, sondern ein drastisches, opulentes Bild.
Und weil Gott sich mit Jerusalem identifiziert, ist Gott für die Menschen, was Jerusalem für die Menschen ist, denen diese Verheißung gilt: eine Mutter, die stillt, das Kind auf der Hüfte trägt und auf den Knien schaukeln lässt. Vielleicht gehen wir heute zu schnell über solche Bilder hinweg. Aber es ist lohnend, sie sich wirklich vor Augen zu stellen und ihnen nachzuspüren: Gott ist für ihre Töchter, Söhne, Kinder des Lebens so wie eine Mutter, die ein Kleinkind auf den Knien schaukelt, zärtlich, aufmerksam und zugewandt. Gott hält und trägt ihre Kinder wie Mütter ein Kleinkind auf der Hüfte tragen: nah, sicher und fest. Es sind Bilder einer sehr frühen menschlichen Erfahrung, aus einer Zeit, die nur untergründige Gefühle in der Seele hinterlässt. Nach all den Gewalttaten, die dem Volk Israel widerfahren sind, ist es das Bild von mütterlicher Zuwendung, Kraft und Stärke, das in die gute Zukunft führt. Ohne Einschränkung und ohne Abwertung wird die Körperlichkeit von Geburt, Stillen und Sorge als Bild für Gott gewürdigt. Und umgekehrt wird im weiblichen Leben-Hervorbringen und Nähren ein Bild für Gott entdeckt.
Dieses Bild, dieser Name, diese Selbstmitteilung Gottes als Mutter ist genauso gültig, genauso richtig und genauso angemessen wie alle Rede von Gott als HERR und Vater: Wie eine Mutter will ich euch trösten. Ich glaube, es täte uns gut, dieses Bild häufiger anzuschauen und aufzurufen.