Ja, so sagt Gott: Freudig jubelt Jakob zu, jauchzt mit dem Ersten der Nationen, jubelt und lasst hören: Gott hat dein Volk gerettet, den Rest Israels. Seht, ich bringe sie aus dem Nordland, ich sammle sie von den Enden der Erde. Unter ihnen sind Blinde und Lahme, Schwangere und Wöchnerinnen. Als große Gemeinde kehren sie hierher zurück. Unter Weinen kommen sie, mit Erbarmen geleite ich sie. Ich führe sie an Wasserbäche und auf geraden Wegen, wo sie nicht stürzen. Denn ich wurde Israel zum Vater und Efraim – er ist mein Erstgeborener.
Buch Jeremia, Kapitel 31, Verse 7-9
Das Erste Testament ist mehr als ein Steinbruch, um das Zweite Testament zu untermauern. Oder: Es sollte mehr sein. Die heutige erste Lesung aus dem Buch Jeremia soll offenbar zum Evangelium hinleiten. Sie wurde ausgewählt wegen der Nennung der "Blinden und Lahmen", die beim zweiten, endgültigen Exodus Israels, wenn Gott sein*ihr Volk für immer sammelt, heimbringt und rettet, genannt werden: Ausgerechnet die verwundbarsten und schwächsten Mitglieder der Gemeinschaft werden hier erwähnt, beim Volk, das erneut heimzieht, wie es die Trostschrift aus dem Buch Jeremia erwartet.
Der geschichtliche Hintergrund: Das alte Königreich Israel und Juda, unter König David vereint, war zuerst auseinandergebrochen in Nord- und Südreich. Dann war das Nordreich Israel - verkürzt nach dem Enkel Jakobs oft auch "Efraim" genannt - untergegangen und schließlich noch das Südreich Juda: Die Truppen der Großmacht Babylon hatte Jerusalem zerstört und alle Identitätsgaranten Israels in einem großen Bevölkerungsaustausch nach Babylon verschleppt, die Königsfamilie und die Regierungsbeamten, das Tempelpersonal und alle Schriftkundigen. Solche Verschleppungen waren ein übliches Mittel, um eroberte Gebiete dauerhaft zu besetzen. Im Babylonischen Exil verloren die Verschleppten aber ihre Identität nicht, sondern der Glaube an die Gottheit Israels wurde neu entdeckt und ausformuliert. Hier entstand unter anderem das Buch Jeremia, eine in mehreren Ringen gewachsene Komposition verschiedener Stimmen, mit viel Unheilsprophetie, die der Klage über das Schicksal Israels Worte gibt und Ursachen ausmacht: Israel sei Gott abtrünnig gewesen, eine untreue Ehefrau. Die Kapitel 30 bis 33 aber bilden die "Trostschrift": Hier wird eine Vision entwickelt, wie es sein würde, wenn Gott das Volk wieder heimholte. Aus dieser Vision werden nun drei Verse für den heutigen Sonntag entnommen, eben wegen der Nennung der Blinden, weil das Evangelium von der Heilung eines Blinden durch Jesus erzählt.
Bei dieser Auswahl wird aber der Textzusammenhang unterbrochen. Die Blinden und Lahmen - denkt dabei irgendwer auch an blinde und lahme Frauen? Nein, oder? - sind nur ein Teil der verwundbarsten Menschen, sie kommen nur als punktuelles Beispiel vor. Viel prominenter ist die Rede von den Frauen, die sich durch das ganze Kapitel zieht. Zu Beginn des Kapitels heißt es nämlich:
"Ich werde dich wieder aufrichten, du wirst weiterleben, Israel, du junge Frau. Du wirst dich wieder mit deinen Pauken schmücken und dich im Tanz der Fröhlichen wiegen." (Vers 4)
Dann werden die Schwangeren und die Frauen im Wochenbett genannt:
"Ich sammle sie von den Enden der Erde. Unter ihnen sind Blinde und Lahme, Schwangere und Wöchnerinnen." (Vers 8)
Gerade sie sollen sicher zurückkehren: Sie, die auf der Grenze zwischen Tod und Leben die größte Schöpfungsmacht verwirklichen, die Menschen möglich ist, nämlich gebären. Die stärkste Kraft, die ein Mensch aufbringen kann, macht ihn, macht die gebärende Frau auch am verletzlichsten, in höchstem Maße angewiesen auf Schutz und Fürsorge. Sie sind die Menschen, die Gott heimholt: die am eigenen Leib erfahren haben, dass sie auf andere Menschen angewiesen sind. Die sich deswegen auch heimholen lassen und nicht der Illusion erliegen, alles alleine zu schaffen.
Die Festfreude der Rückkehr wird bebildert durch die junge Frau, die sich im Tanz freuen wird (Vers 13). Und auch die Trauer über die Zerstörung durch die Babylonier wird durch eine Frau dargestellt, eine der Mütter Israels, deren Weinen Gott hört:
"So sagt Gott: Horch, in Rama ist Wehklagen und bitteres Weinen zu hören. Rahel weint um ihre Kinder, sie will sich nicht trösten lassen wegen ihrer Kinder, denn keines ist mehr da. So sagt Gott: Verwehre deiner Stimme das Weinen und deinen Augen die Tränen. Denn es gibt Lohn für deine Arbeit: – so Gottes Spruch – die Kinder werden aus dem feindlichen Land zurückkehren. Es gibt Hoffnung für deine Zukunft: – so Gottes Spruch – die Kinder werden zurückkehren in ihre Heimat." (Verse 15-16)
Denn Gottes mütterliches Sorgen gilt Israel, Gottes Mutterleib bebt in Sorge um Efraim (Vers 20).
"Israel, du junge Frau", heißt es schließlich in Vers 22, "Kehre zurück in deine Städte hier! Wie lange willst du dich noch zögernd verhalten, Tochter, die du zurückgebracht werden sollst? Denn Gott hat Neues im Land geschaffen: Die Frau wird den starken Mann umgeben."
Dieser letzte Vers ist übrigens niemals Teil der sonntäglichen Lesung aus dem Ersten Testament. So hören Menschen im Sonntagsgottesdienst auch nichts von der neuen Schöpfungsordnung oder davon, dass der Neue Bund - so wichtig für die christliche Tradition - auch mit einer neuen Qualität von Beziehungen zwischen Männern und Frauen verwirklicht wird. Es wäre aber natürlich möglich und sehr erhellend, auch den neuen Umgang Jesu mit den Frauen als Verwirklichung des Neuen Bundes in der Tradition des Jeremiabuches zu deuten.
In der heutigen Lesung, diesem kurzen Ausschnitt, erscheint Israel wie auch Gott rein männlich: Israel ist der Erste, Gott ist Vater. Vollständig wäre das Bild erst, wenn der Text im Zusammenhang gelesen würde. Dann erscheint Gott nämlich auch als Mutter und Israel als weiblich. Wenn schon Gläubige vor 2400 Jahren Gendergrenzen überschreiten konnten, warum fällt das den Menschen so schwer, die heute über die katholische Leseordnung entscheiden? Gerade heute, wo wir so viel wissen über geschlechtliche Vielfalt, über die Offenheit und schillernde Schönheit der sexuellen Identität, und natürlich auch über die Begrenztheit unserer Gottesbilder?
Gottes Trost, Gottes Sorge, Gottes Fürsorge hat weibliche und männliche Züge. Sie gilt allen Menschen und sprengt bisherige Geschlechterbilder auf. Wenn der Neue Bund Wirklichkeit wird, dann werden auch die engen Rollenbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit an ihr Ende kommen, und Menschen werden Freiheit erfahren, in die Weite Gottes hinein.
Zum Weiterlesen:
Angela Bauer, Das Buch Jeremia, in: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hrsg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 2/1999, S. 258-269.
Hermann-Josef Stipp, Artikel "Jeremia" im Wissenschaftlichen Bibellexikon