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30. Sonntag im Jahreskreis B // zur zweiten Lesung

Datum:
Fr. 25. Okt. 2024
Von:
Annette Jantzen

Jeder menschliche Hohepriester wird zum Dienst für die Menschen als Anwalt vor Gott eingesetzt, damit er wegen der Toraübertretungen Gaben und Schlachtopfer darbringt. Er kann mitfühlen mit den Unwissenden und in die Irre Geführten, weil er auch selber schwach sein kann. Wegen dieser Schwachheit muss er für sich selbst wie für das Volk Israel die Entfernung der Menschen von Gott durch Opfer verringern. Da niemand sich selbst ein Ehrenamt gibt, sondern von Gott berufen wird, wie es auch bei Aaron war, so hat sich auch der Messias nicht selbst für würdig gehalten, Hoherpriester zu werden. Gott hat aber zu ihm gesagt: »Du bist mein Kind, ich habe dich heute geboren.« Außerdem sagte Gott auch anderswo in der Schrift: »Du bist für immer ein Priester wie Melchisedek.«

(Brief an die Hebräer*innen, Kapitel 5, Verse 1-6)

Am Brief an die Hebräer*innen sieht man besonders gut, warum Theologie im luftleeren Raum keine gute Sache ist. Theologie, die nicht benennt, wo, wann und in welcher Situation sie formuliert wird - die sich also scheinbar besonders gut dafür eignet, ewige und unfehlbare Wahrheiten zu verkünden - wird außerhalb ihrer eigenen Zeit und ihres ursprünglichen Raums leicht unverständlich. So ist es dem Hebräer*innen-Brief ergangen: Als ganz eigenständige theologische Auslegung des Christusereignisses in kultischen Metaphern macht er einen theologischen großen, mutigen Wurf. Es stört ihn überhaupt nicht, dass alle anderen zweittestamentlichen Überlieferungen andere Bilder und andere Traditionen verwenden und weiterschreiben. Von diesem Mut zum eigenen Bild kann man sich dauerhaft etwas abschauen.

Nicht zur Nachahmung empfohlen hingegen ist, was dem Hebräer*innen-Brief dennoch so oft nachgemacht wurde: Überzeitliche Theologie zu formulieren ohne Anhaltspunkt, wer da spricht, was die drängenden Fragen der Zeit sind und in welchem Hoffnungshorizont Schreibende und Lesende stehen. Vom Hebräer*innen-Brief, der so viel kultisches Vokabular verwendet, wissen wir nicht einmal, ob er vor oder nach der Zerstörung des Zweiten Tempels geschrieben wurde.

Er fokussiert stark auf die rätselhaft bleibende Gestalt des "Melchisedek", wörtlich "König der Gerechtigkeit", der im ersten Testament in Genesis 14,18-20 und im Psalm 110 vorkommt. In der Genesis segnet er Abraham, und Abraham gibt ihm dafür den Zehnten - so wird unter Rückgriff auf eine fiktive Vorgeschichte die Tempelsteuer begrünndet. Im Psalm dient er als Vorbild für den vorbildlichen König David, der zur "Ordnung des Melchisedek" gehöre. Eine solche Ordnung gab es nicht neben der aaronitischen-levitischen Priestertradition, und damit geht König David ins Sagenhafte ein. Die Gestalt Melchisedeks scheint uralt, beide Stellen sind aber erst gegen Ende der Textentstehung in den biblischen Text eingeschrieben worden, als die Funktion eines Hohepriesters sich erst gerade etabliert hatte. In zwischentestamentlicher Zeit und während der Trennung der Wege der späteren Religionen Judentum und Christentum erfährt Melchisedek eine breite Rezeption, die außer bei beiden ersttestamentlichen Stellen und dem Hebräer*innen-Brief aber nicht biblisch geworden ist.

An diese nicht fassbare, exemplarische Figur kann sich nun alle mögliche Spekulation anhaften. Im Hebräer*innen-Brief wird Jesus als Messias mit Melchisedek verständlich gemacht und damit zugleich eine Erklärung der rätselhaften Gestalt des Melchisedek in der Genesis vorgeschlagen. Die Männerzentrierung des Bildes ist unübersehbar, und die Teilhabe an der Gemeinschaft heißt für die Frauen der lesenden Gemeinden, sich in das männliche Bild hineinlesen zu müssen. Die Symbolik, die anders als das Verständnis Jesu als "Sohn der Weisheit" ausdrücklich männlich und gleichzeitig mythologisch ist, bereitet eine Legitimierung patriarchaler Herrschaft im Namen Jesu vor, der doch gerade ein Opfer patriarchaler Macht und damit das Gegenteil eines Patriarchen gewesen war.

Lange vor der Etablierung eines bezahlten Klerus im Christentum mit Rückgriff auf kultisch-priesterliche Traditionen will der Hebräer*innen-Brief hier eigentlich ausdrücken, dass Jesus der erwartete Messias war, der ein-für-allemal gewirkt hatte, allem augenscheinlichen Scheitern zum Trotz. Er tat das - wenn er vor der Tempelzerstörung geschrieben wurde - in einem Umfeld, in dem die Besetzung des Hohepriester-Amtes vielfach von Korruption geprägt war und die Spekulationen um himmliche, messianische Priester attraktive Gegenbilder schuf, oder - wenn er nach der Tempelzerstörung entstand - mit frischer Erinnerung an wenig ideale Zustände bei der Auswahl der Hohepriester und an den Zusammenbruch der Tempelordnung. 

Lange nachdem der Hebräer*innen-Brief zu einem zwar beeindruckenden, aber weitgehend selbst rätselhaften Stück spekulativer Theologie geworden war, dient insbesondere das Bild von Christus als Hohepriester der Selbstvergewisserung eines ausschließlich männlichen Klerus. Es legt einengende Verständnisse von Jesus nahe, dessen Männlichkeit nun ausgesprochen wichtig wird, und stellt das heutige katholische Priestertum wiederum in diese mythische Vergangenheit hinein. Denn der Vers "Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks" gehört heute noch zur Liturgie der Priesterweihe und wird dabei mit dem Dreiklang aktualisiert, der nach Elizabeth Johnson normativ für sexistische Bibelauslegung  ist: Er wird ausschließlich, wortwörtlich und patriarchal verstanden und verwendet.

Die Theologie des Hebräer*innen-Briefs, die ewige Wahrheiten ausdrücken will und dabei doch ausgesprochen zeitgebundene Bilder verwendet, wird in der Geschichte zwar nur noch selten verstanden, dafür aber zum Anknüpfungspunkt für eine diskriminierende Ämtertheologie. Wer ewige Wahrheiten ohne Beachtung der Bedingungen der Gegenwart ausdrückt - für die Gegenwart sind vielleicht eher diejenigen zuständig, die Care-Arbeit leisten und daher wenig Zeit haben für überzeitliche Wahrheiten -, der läuft Gefahr, dass die so erfahrungsenthobene Theologie  zum Ausgangspunkt für alle möglichen Spekulationen wird und damit gut herrschende Machtinteressen legitimieren kann. Gleichzeitig ist der Brief an die Hebräer*innen die zweittestamentliche Schrift, die am klarsten eine Überbietungstheologie formuliert, von der aus das Judentum als überholt und defizitär abgewertet wurde und wird.

Letztlich stellt sich auch bei dieser Textauswahl die Frage nach der Qualität der Leseordnung.

 

Zum Weiterlesen:
Artikel "Melchisedek" bei wibilex.
Das neue Testament jüdisch erklärt, Stuttgart 2021.
Ulrike Wagner, Der Brief an die HebräerInnen, in: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hrsg.), Kompendium feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1999, 683-693.

 

Zur ersten Lesung: "Gotteswort, weiblich" von 2021

 

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