Als Antwortpsalm wird am Sonntag der letzte Teil des 22. Psalms gebetet. Dieser Psalm, der von Todesverlassenheit und Rettung spricht, ist im Christentum vor allem deswegen sehr bekannt, weil es der Sterbespalm Jesu ist: "Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?" Die ganze Passionsgeschichte ist nach unter andererm diesem Psalm ausgestaltet, weil mit ihm sagbar wurde, was da geschehen war, er lieh so Worte für das, was zu grausam und zu hoffnungslos war. Gewöhnlich wird die erste notvolle Klage des Psalms mit "Warum?" übersetzt, aber genau wie das Deutsche unterscheidet das Hebräische auch zwischen "Warum?" und "Wozu?", und die Vokabel "Warum?" kommt im Psalter nicht vor. Darin steckt eine große Lebensweisheit, denn es gibt Fragen, auf die es keine Antwort gibt, mit denen wir leben oder sterben müssen. Die Frage "Wozu?" aber öffnet zumindest noch einen Spalt zur größeren Hoffnung, denn sie fragt auf die Zukunft hin. Und die Zukunft ist offen, weil es Gottes Zukunft ist.
Im Verlauf des Psalms versucht das betende Ich, zurück zum Vertrauen zu finden. Der erste Angang geht über die Väter: "Dir haben unsere Väter vertraut, * sie haben vertraut und du hast sie gerettet." (V5) Dieser Versuch aber scheitert: "Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch..." (V6) Der nächste Angang geht dann über die Mutter: "Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter geworfen/gezogen hat, der mich an der Brust meiner Mutter gelehrt hat, mich anzuvertrauen." (V10) Die Übesetzungsunsicherheit beim Wort "gezogen/geworfen" liegt daran, dass diese Verbform an keiner anderen Stelle der Hebräischen Bibel vorkommt und daher unklar ist, ob sie sich vom Verb "ziehen" oder "herauswerfen, herausfließen, herausschreien" ableitet. Das Verb "ziehen" passt etwas besser zum nächsten Satz, denn sowohl das Herausziehen des Kindes als auch, es auf die Brust seiner Mutter zu legen, sind Hebammentätigkeiten. Das Verb "herausfließen" wird für die hervorbrechenden Wasser reißender Flüsse verwendet, hier würde es dann für das Fruchtwasser gebraucht und zugleich ziemlich gut für das stehen, was eine Geburt ausmacht, nämlich der Kraftaufwand des Herauswerfens genau wie das Schreien. In jedem Fall aber ist es eine eindeutig weibliche Gottesanrede, und über diese gelingt der Sprung ins Vertrauen: "Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe!" (V12)
Der letzte Teil des Psalms, ab Vers 26, wird nun im Sonntagsgottedienst verwendet; das ist der Teil, in dem noch aus der Not heraus vom künftigen Dank gesprochen wird. Dieser Teil ist im Lektionar an zwei Stellen gekürzt, unter anderem fehlt der letzte Teil von Vers 30. Dieser Vers 30 ist in der Übersetzung zahlreicher deutschsprachigen Bibelausgaben etwas holprig geraten: Dass die Vergangenheits-Form hebräischer Verben auch für die Zukunft und für Aufforderungen gebraucht wird, hätte die Fassung der Einheitsübersetzung hier verständlicher gemacht, denn sie übersetzt
"Es aßen und warfen sich nieder alle Mächtigen der Erde. Alle die in den Staub gesunken sind, sollen vor ihm sich beugen. Und wer sein Leben nicht bewahrt hat - (V31:) Nachkommen werden ihm dienen."
Die Übersetzung "Es werden essen und sich niederwerfen alle Mächtigen..." wäre deutlich verständlicher als Aussicht auf Dank und Rettung, auf die Mächtige ebenso angewiesen sind wie die Armen. Dass der letzte Teil des 30. Verses im Lektionar ausgelassen wurde, macht den Textfluss insgesamt zwar unverständlicher, weil so nicht erkennbar wird, wem denn nun Nachkommen dienen sollen. Es ist aber insofern wenig schade, als an dieser Übersetzung ohnehin nicht mehr erkennbar ist, dass bei dem ausgelassenen Satzteil "Wer sein Leben nicht bewahrt hat" eigentlich von fehlgeborenen Kindern die Rede ist. Damit ist die Einheitsübersetzung nicht alleine, die Gute Nachricht Bibel und die Zürcher Bibel lassen ihn gleich ganz weg. Die "Hoffnung für alle"-Bibel überträgt kreativ "alle Sterblichen, denen das Leben zwischen den Fingern zerrinnt", die Neue Genfer Übersetzung wählt die Möglichkeit "alle, die keine Kraft mehr zum Leben haben". Wörtlich übertragen nur die Schlachter-Übersetzung von 2000: "und wer seine Seele nicht lebendig erhalten kann" und die Luthebibel von 2017 bis auf die Entscheidung für den Plural: "[alle, die zum Staube hinabfuhren] und ihr Leben nicht konnten erhalten." Das ist aber insofern verständlich, als der mittlere Teil des Verses "alle, die zum Staub hinabfuhren" im Plural steht und danach eben dieser so verschieden übersetzte Versteil folgt "und wer seine Seele nicht am Leben erhalten konnte." Der Singular mag an dieser Stelle auch dafür stehen, dass diese Menschen nicht mit ihrer Individualität erlebbar werden konnten - ein stellvertretender Singular steht für alle.
Der moralisierende Unterton der Einheitsübersetzung "wer sein Leben nicht bewahrt hat" darf ruhig beiseitegelassen werden, denn es geht hier nicht um Wertung, Lebensbilanz oder Gerichtsvorstellungen, sondern um das universale Gotteslob. Und es werden Gott schauen, so Psalm 22, die ihr Leben, ihre Seele, ihren Lebensatem nicht am Leben erhalten konnten. Seele, Lebensatem, auch Begehren ist das gleiche Wort, eigentlich heißt es "Kehle". Da, wo wir am verletztlichsten sind, wo unser Begehren noch unartikuliert ist, wo wir aufatmen, da ist es der Lebensatem Gottes, der uns lebendig macht. Er ist das, was mich als einzelne Seele lebendig macht, und zugleich das, was alles Lebendige verbindet. Und wer daran noch keinen eigenen Anteil hatte, sondern nur als ungeborenes Kind über die Mutter: auch die und der wird Gott schauen. Denn das ist, wer sein Leben nicht konnte erhalten: wer stirbt, noch bevor ihr*sein Leben auf dieser Erde beginnen konnte.
Die Frage, was mit dem Leben nach dem Sterben geschieht, hat in der Hebräischen Bibel erst spät schriftlichen Niederschlag gefunden. Noch seltener sind die Benennungen von Fehlgeburten, und auch von Geburten wird relativ wenig religös gesprochen. Für diese Bereiche des Lebens war JHWH als Staatsgott zunächst auch nicht zuständig; erst mit der Entwicklung des Glaubens an EINE Gottheit über und hinter allem wurden auch die Aspekte des Glaubens in die biblische Rede von Gott integriert, für die früher andere Instanzen zuständig waren, vornehmlich im Bereich der häuslichen Spiritualität. Das Sterben und Geborenwerden gehört in eher weiblich geprägte Räume, und deren heilige Mächte wurden erst nach und nach in die Vorstellung vom EINEN Gott Israels integriert und haben vorher kaum schriftliche Spuren hinterlassen.
Hier aber kommen die fehlgeborenen Kinder vor, und sie werden nicht irgendwie bewahrt, sondern haben Anteil daran, dass alles Leben den Glanz Gottes sehen und in diesem Glanz aufgehoben sein wird.
Von fehlgeborenen Kindern ist in der Bibel selten die Rede, vielleicht werden sie deswegen beim Übersetzen leicht übersehen. Aber das ist nicht nur in der Bibel so. Auch in heutigem religiösen Sprechen, in unseren Gottesdiensten, im Zusammenhang mit Spiritualität haben die Fehlgeburts-Erfahrungen kaum Platz, die doch so viele Frauen und Paare teilen.
Hier folgen zwei Versuche, diese Erfahrung ins Gebet zu nehmen, aus meinem Buch "Leben, das wächst. Schwangerschaft und Spiritualität", erschienen 2023 bei echter:
All das ungelebte Leben -
dass du es bewahren mögest, G*tt.
Dass du die Fülle für mich bewahren mögest,
die mir so bitte fehlt.
Meine Liebe und meine Hoffnung
sind zu meiner Trauer geworden.
Und mein Glaube -
der wird zu deiner Trauer.
Du musst das mit mir aushalten, G*tt,
und ich mit dir.
Du und ich. Wenigstens das.
Einmal werde ich meine Trauer an die Hand nehmen
und mit ihr Eis essen gehen.
Wir werden den Enten am Brunnen zusehen
und ich werde ihr von der Zeit erzählen, als es sie noch nicht gab.
Meine Trauer wird große Augen machen
und versuchen, sich das vorzustellen.
Und ich werde ihr sagen, dass sie zu mir gehört
und dass ich mir mein Leben auch nicht mehr vorstellen kann ohne sie.
Und dann werden wir barfuß über die Wiese zurückgehen.