Der 6. Sonntag der Osterzeit ist geprägt von zwei Spitzenaussagen aus den Kreisen unserer sehr frühen Vorgänger*innen im Glauben, die als Basisschriften das Johannesevangelium und die Johannesbriefe verwendeten: zwar nicht von einem einzigen Verfasser oder einer einzigen Verfasserin geschrieben, aber einig im Stil, den dem die Sätze sich in Spiralen zu immer neuen Windungen formen, mit einem Hang zu großen Worten und einem gewissen Pathos. Das war eine Einschreibung und Fortschreibung ihres Glaubens in die aktuelle Literatur ihrer Zeit, und es ist zugleich ein bleibender Hinweis darauf, dass zum Glauben die Vielfalt gehört und der Mut zur Übersetzung in aktuelle Formen - denn dass Jesus so niemals selbst gesprochen hat, war allen klar, die diese Schriften in den Kanon des zweiten Testaments aufgenommen haben.
Zwei Spitzenaussagen also:
Wie mich Gott geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe. Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich die Gebote Gottes gehalten habe und in ihrer Liebe bleibe. Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde. Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als das eigene Leben für die Freundinnen und Freunde hinzugeben. Ihr seid meine Freundinnen und Freunde, wenn ihr handelt, wie ich euch gebiete. Ich nenne euch nicht mehr Sklavinnen und Sklaven, denn eine Sklavin weiß nicht, wie ihre Gebieterin handelt und ein Sklave kennt das Vorhaben seines Herrn nicht. Euch aber habe ich Freundinnen und Freunde genannt, denn ich habe euch alles, was ich von Gott, meinem Ursprung, gehört habe, mitgeteilt. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht tragt und eure Frucht bleibt, so dass euch gegeben wird, um was ihr Gott in meinem Namen bitten werdet. Ich gebiete euch, dass ihr euch gegenseitig liebt!
(Evangelium nach Johannes, Kapitel 15, Verse 9-17)
Und, noch bekannter, aus der zweiten Lesung:
Geliebte, lasst uns einander lieben: Die Liebe ist von Gott. Alle, die lieben, sind von Gott geboren und kennen Gott. Die nicht lieben, kennen Gott nicht, denn: Gott ist Liebe. So wurde die Liebe Gottes bei uns sichtbar: Gott sandte ihren Erwählten, ihr einziges Kind, in die Welt, damit wir durch ihn leben. Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Gott uns geliebt und ihren Erwählten als Überwindung unserer Gottferne gesandt hat.
(1. Johannesbrief, Kapitel 4, Verse 7-10)
So viel Liebe. Aber Liebe ist ein großes Wort. Wenn Gott nur Liebe ist, woher kommt dann das Böse? Der evangelische Neutestamenter Gerd Theißen hat darauf hingewiesen, dass auch hier gilt: Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Wenn Gott keine dunklen Gewänder hat, dann stellt sich unvermeidlich die Frage nach dem Bösen.
Und tatsächlich kennt die johanneische Gemeinde eine intensive Auseinandersetzung mit dem Satan, der in der Politik, im fehlgeleiteten Wollen des Menschen und sogar in der Verwechslung mit Gott allgegenwärtig ist. Man kann ihn für umso mehr Böses verantwortlich machen, je sicherer man ist, dass er besiegt wird oder sogar eigentlich schon besiegt ist. Diese Einstellung ist radikal pessimistisch im Blick auf eine Welt voller Hass, und sie findet ihr Gegenbild in einer Gemeinde, die aus gegenseitiger Liebe und Anerkennung lebt und darin ein Zuhause in dieser Welt findet. Es ist kein Zufall, dass von Nächsten- oder gar Feindesliebe hier keine Rede ist - diese Gemeinde setzt auf die gegenseitige Liebe innerhalb ihrer Kreise.
Dieses Konzept war umstritten, in der komplizierten Trennung der Wege der beiden neu entstehenden Religionen des rabbinischen Judentums und des Christentums, und innerhalb der Gruppen der Jesusgläubigen auch. Entsprechend scharf werden die Worte gewählt: "Ihr habt den Satan zum Vater" oder "Gott ist nicht in euch".
Soweit, so vergangen. In Verfolgungszeiten ist das wohl ein Ansatz, der trägt. Wo von der "äußeren" Welt keine Verfolgung ausgeht, da ist so ein Konzept aber auch gefährlich. Denn wo die Welt finster und die Glaubensgemeinschaft als ein Ort des Lichts erscheint, da muss man sich besonders hüten vor der Gefahr des geistlichen Missbrauchs. Was in Zeiten trägt, wo die äußere Welt wirklich finster ist, kann in anderen Zeiten zerstören. Über die Jahrhunderte betrachtet ist ja selten so viel nur Schwarz und Weiß, nur Licht oder nur Dunkelheit. Wir leben doch meistens in einer Welt der Schattierungen, die unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wo wir leben, wie alt wir sind, welche Privilegien wir genießen und welche Diskriminierungen wir erfahren.
Das Konzept des Johannesevangeliums geht aber nur auf, wenn intern wirkliche Gegenseitigkeit gelebt wird. Wenn es intern wirklich keine Diskriminierung, Unterdrückung und Ausgrenzung gibt. So ist es aber nicht mehr. (Ob es damals für alle so war - wer weiß das schon.) Weder ist unser Leben heute in Deutschland vergleichbar mit der Unterdrückung nichtrömischer Menschen im römischen Reich, noch ist unsere Kirche Hort der Liebe und der unbedingten gegenseitigen Achtung. Nach dem Johannesevangelium könnte man nichts lernen von der Welt außerhalb der Kirche, weil sie durch und durch finster ist. Diese Haltung ist aber nur berechtigt, wenn es außen wirklich nichts zu lernen gibt, weil da das pure Unrecht herrscht, oder wenn man wirklich nichts mehr lernen muss, weil es kein Unrecht in den eigenen Reihen gibt. Ausweglos wird es für diskriminierte Gruppen in der Gemeinde, wenn der Ist-Zustand innerhalb nicht als erlösungsbedürftig verstanden wird, sondern als gottgewolt, und wenn sie nichtmal auf Lernorte außerhalb der Kirche verweisen können, weil es dort für die Kinder des Lichts nichts zu lernen gibt.
Spitzensätze kommen von Gipfelerfahrungen. Bei aller Bedrängung von außen haben diese sehr frühen Glaubensgeschwister wohl eine Erfahrung miteinander und mit Gott gemacht, die sie weit ins Licht getragen hat: "Gott ist Liebe." Nicht nur nebenbei überwindet dieser Satz auch männlich gegenderte Gottesbilder. "Gott ist Liebe" klingt zwar wie eine Definition, ist aber eine Erfahrung, eine Erfahrungsweise Gottes, eines von Gottes Gewändern für uns. Dass wir es mit Gott zu tun haben, wenn wir Verbundenheit zum Guten spüren, wenn wir uns für eine andere Person einsetzen, wenn wir angenommen sind. Wenn wir Diskriminierungen überwinden, Ausgrenzung wahrnehmen und beenden, Verschiedenheit als Reichtum feiern. Und wir heute und hier haben sogar noch die Möglichkeit, damit nicht unter uns zu bleiben, sondern unsere Welt weiter zum Guten zu verändern. Gott ist Liebe: Erfahrbar in Solidarität, in tragenden Netzwerken, die sichere Orte sind, im Voneinander-Lernen und Miteinander-Gestalten. Eigentlich sollte sich jede verkrustete Hierarchie, jede arrogante Überlegenheit, jede verletzene Abwertung damit erledigt haben. Mit dem ersten Johannesbrief kann man ihr ihre Macht entziehen.
Zum Weiterlesen: Manfred Oeming (Hrsg.), Ahavah. Die Liebe Gottes im Alten Testament, Leipzig 2018.