Karfreitag

Datum:
Fr. 2. Apr. 2021
Von:
Annette Jantzen

...Es gibt so viele Geschichten ohne gutes Ende, Lebensgeschichten von früher und von heute, Geschichten von zerbrochenen Leben. Darunter auch Geschichten von Gewalt gegen Kinder, die viele von uns mit sich herumtragen. Geschichten von Ausgeliefertsein und vom innerlichen Zerbrechen. Geschichten, zu denen ausgerechnet diese Kirche beigetragen hat, die sich auf Jesus beruft. Geschichten vom Machtmissbrauch, den die Kirche erst ermöglicht hat. Geschichten von Leid, das diejenigen nicht haben sehen wollen, die es hätten beenden können. Und wo das Leid angetan wird, zugelassen, verschwiegen, übergangen wird, da wird alles hohl, was eigentlich tragen sollte. Aus dem Gebäude des Glaubens wird eine Ruine, und auch die letzten Mauern dieses missbrauchten Glaubens werden noch zusammenbrechen.

Am liebsten möchte ich die Augen zumachen und es nicht an mich heranlassen: ausgerechnet im Namen dieses einen, von dem wir noch erzählen, im Namen des aus zynischem Kalkül zu Tode gefolterten Menschen, wurde und wird wehrlosen Menschen Leid zugefügt. Ausgerechnet dieser Mensch, dessen Tod eine Gewalttat von in ihrer Macht bedrohten Männern war, ausgerechnet er wird hergenommen, um männliche Macht zu legitimieren und für gottgewollt zu erklären. So unglaublich tot ist er, dass auch so eine Verkehrung seiner Botschaft bis zur Unkenntlichkeit noch möglich ist.

Jesus wurde Opfer eines Systems von Gewaltbeziehungen. Menschen, die über andere herrschen, Menschen, die andere Menschen ausbeuten, Systeme und Strukturen, die wir auch heute noch kennen: Rassismus und Sexismus, Ausbeutung und Missachtung, gegenüber Menschen und der Erde. Die Strukturen der Sünde scheinen übermächtig zu sein.

Wir stecken noch mittendrin. Wir kennen das Ende der Geschichte nicht. Ich ahne, dass es keine einfache Auflösung geben wird in ein Alles-wieder-Gut hinein.

Aber da ist die Kraft des Weitererzählens. Die Kraft von Menschen, die aus diesen Geschichten über Jesus von Nazareth leben und auf eine alles übersteigende Güte setzen mit einem Vertrauen, für das es in der Welt und in der Geschichte keine logische Erklärung gibt.

Ich werde still angesichts des Vertrauens Jesu in diese machtvolle Güte, die hinter dieser Welt steht, die alles trägt, was hier geschieht, diese machtvolle Güte, von der die Männer, die ihn ermordeten, keine Ahnung hatten. Diese machtvolle Güte, die gleichzeitig so undurchdringlich ist, weil sie dem Leid kein Ende bereitet. Ich möchte mich ausstrecken und etwas zu fassen bekommen, was ich nur schemenhaft ahne, etwas zu fassen bekommen von einer großen Ruhe, die jenseits aller Gewaltordnung liegt. Ich ahne, dass es eine Verbundenheit aus der Kraft des Lebens gibt, die tiefer reicht als alle Erklärungen und die tragfähiger ist als alle Macht und Gewalt auf dieser Welt. Dass es eine Verbundenheit im Leid wie im Heilsein gibt, die tiefer reicht als aller Zusammenbruch.Auch der schlimmste Todeskampf findet ein Ende. Und endlich, endlich ist dann alles vorbei, der Schmerz, die Angst, die Verzweiflung. Sie enden in einer großen Stille, während die unempfindliche Geschäftigkeit rund um den Hinrichtungsplatz herum weitergeht, als wäre nichts weiter geschehen. (So wie das Leben außerhalb der Intensivstationen auch einfach weitergeht.) Das ist die Schwelle, auf der wir stehen, und von der wir nicht wissen können, ob hinter dem Zusammenbruch noch eine Zukunft sein wird. Ich möchte glauben, das sich hier, auf der Schwelle, in der Stille nach dem Todeskampf etwas zeigt von dieser großen Ruhe und unauslotbaren Güte, die weiter reicht als alles, was wir hoffen können.