[Johannes trat auf] und verkündete: »Nach mir kommt jemand machtvoller, als ich es bin. Verglichen mit dieser Person bin ich nicht gut genug, dass ich mich bücke und ihren Schuhriemen löse. Ich habe euch im Wasser getauft, sie aber wird euch in heiliger Geistkraft taufen.«
In jenen Tagen kam Jesus aus Nazaret, das in Galiläa lag, und wurde von Johannes im Jordan getauft. Sobald er aus dem Wasser herauskam, sah Jesus, wie der Himmel sich öffnete und die Geistkraft wie eine Taube auf ihn herabkam. Und aus dem Himmel tönte eine Stimme: »Du bist mein geliebtes Kind, über dich freue ich mich.«
Ich finde es ungeheuer faszinierend, dass wir so alte Texte wie diesen heute immer noch lesen. Dass wir ihn verstehen können, dass diese Worte nicht bedeutungslos, nicht unverständlich, nicht völlig überholt werden. Dass wir aus diesen alten Sprachen, in denen die Bibel geschrieben ist, noch übersetzen können und die gleichen Worte hören können wie Menschen so viele Jahrhunderte vor uns.
Über dieser Nähe mag es aber sein, dass uns die Fremdheit aus dem Blick gerät: So nüchtern wirkt der Text, man könnte ihn als Bericht missverstehen, zwar mit etwas fremden Bildern (warum ausgerechnet eine Taube, Plage in vielen Städten heutzutage?), aber ansonsten sieht man dem Text nicht an, wie fremd die Kultur, das Denkmögliche, das Glaubwürdige der damaligen Hörer*innen uns heute sind.
Es ist aber kein Bericht, es ist mythologische Sprache, und zwar extrem verdichtete. Himmel, Taube, Geistkraft, Kind/Sohn: Das ist ein ganzes Denk- und Glaubensuniversum. Es gehört zu den Bewegungen der Zeitenwende: Apokalyptische Erwartungen und prophetische Weisheitslehren werden im Frühjudentum vor dem Hintergrund des internationalen Göttinnen-Kultes formuliert. Das Ganze spielt sich in einem größeren kulturellen Rahmen ab, in dem Emanzipationsbewegungen mit demokratischer Gleichheits-Logik quer zu dominanten patriarchalen Gesellschafts- und Religionsstrukturen standen.
Der internationale Göttinnen-Kult des Mittelmeerraums bildet die Folie, vor dem die frühjüdische Weisheitsfrömmigkeit die weibliche Gottesrede für eigene Anliegen nutzt. Diese Weisheitsfrömmigkeit muss den Verlust des Königtums in Israel auffangen. Sie kompensiert diesen Verlust damit, dass die Vermittlung zwischen Gott und Volk, die vorher eine königliche Funktion war, nun von der Weisheit geleistet wurde. Es ist nun die Weihsheit, die in Israel Wohnung nimmt, und zwar überall in Israel, wo die Tora befolgt wird. Hier zeigt sich die nach dem auf den König ausgerichteten Zentralstaat neue Orientierung hin zu Familie und Groß-Haushalten. Gott ist nun nicht mehr im Königreich Israel, sondern im erwählten Volk gegenwärtig, personifiziert durch die Gestalt der Weisheit. Die Weisheit wohnt in den Himmeln, sie ist Schöpfungsmittlerin und ewig wie Gott selbst. In biblischer Literatur gehört vor allem das Buch der Weisheit in ihre Tradition, aber auch das Buch der Sprichwörter, späte prophetische Schriften und Apokryphen, die nicht mehr in den hebräischen Kanon integriert wurden. Hier sind auch Vorstellungen und Sprachspiele anschlussfähig, die zum weitverbreiteten Isis-Kult gehören und als mythologische Elemente in den frühjüdischen Monotheismus integriert werden. Darüber hinaus wird die göttliche Weisheit, die als weibliche Figur verstanden wird, mit der Geistkraft identifiziert (Buch der Weisheit 7,22f.). Die so verstandene Weisheit ist nicht nur etwas für Eliten, sondern sie ist parteiisch für die Entrechteten, und wirkt in der messianischen Erwartung des kommenden Gerichts. Das ist der eine, durchaus mehrfaserige Strang dieses Weltverstehens-Musters.
Ein zweiter Strang: Die Taube. Sie ist, wohl wegen ihres auf Menschen zärtlich wirkenden Paarungsverhaltens, verdichtetes Symbol der Liebesgöttinnen verschiedener Religionen. Ischtar, Astarte, Aphrodite, Venus - sie werden unterschiedlich benannt, stehen in der jeweiligen Religion aber übergreifend für Liebe und Fruchtbarkeit. Das damals allgemeinverständliche, international verwendete Bild der Taube kommt auch in biblischen Texten vor, insbesondere in Psalmen und im Hohelied.
Ein dritter Strang: Frühjüdisches Denken, das die Philosophie der Gegenwart, also die griechische, mit dem Weihsheitsdenken zu verbinden sucht. Hier taucht der Begriff des "Logos" auf, des "Wortes-von-Gott", Sohn der Weisheit. Während die Weisheit in den Himmeln wohnt, bereitet der Logos (griechisch für "Wort") ihr auf der Erde den Weg. Er wird folglich auch Sohn Gottes genannt, so von Philo von Alexandria, dem prominentesten Autor dieser jüdisch-philosophischen Strömung. Diese Philosophie arbeitet nicht mit rationalen Begriffen und scharfer Logik, sondern mit mythologischen Bildern. Das ist kein Mangel, sondern einfach eine andere, uns nicht geläufige Art, Philosophie zu betreiben, und diese Bilder haben ihre eigene welterschließende Kraft.
Die frühen Jesus-Anhängerinnen gehören in diese Weltdeutungs-Tradition. Sowohl die, die alte Jesus-Aussprüche sammeln, als auch die, die hymnische Lobgesänge formulieren, beziehen sich auf diese Offenbarung: Jesus wird als Bote der Weisheit verstanden, später als Verkörperung der Weisheit selbst, in einem Zwischenstadium als menschgewordener Logos, Sohn der Weisheit. In durchaus unterschiedlichen kulturell-religiösen Kontexten wird hier die Sprache der jüdischen Weisheits-Tradition neu verwendet, auf Jesus bezogen, wird die Auferstehung als endgültige Präsenz Gottes in der Welt gedeutet.
Weisheit, gar "Frau Weisheit", das Wort-von-Gott, Sohn Gottes, Gegenwart Gottes in Israel, die prophetische Tradition: Sie bilden das Hintergrund-Webbild aus uns heute fremden Fäden, vor dem die Geschichte Jesu von Nazareth erzählt wird. Diese Bilder sind so fremd, dass die Erwartung verfehlt wäre, wir könnten ohne lose Enden heute wieder an sie anknüpfen. Aber es reicht schon, im Blick zu behalten: Hier geht es nicht um eine Geschichte zwischen Männern. Hier geht es nicht um einen männlichen Gott, der einen männlichen Geist auf seinen männlichen Sohn herabkommen lässt, der einem autonomen griechischen Helden entspricht und dann für die Sünden der Welt geopfert wird. Hier geht es um etwas sehr viel größeres:
Hier erzählen Menschen der frühen Jesusbewegung, wie alles begann. Sie glauben an die Gerechtigkeit Gottes in der Welt, daran, dass Gott ihren*seinen Platz bei den Unterdrückten gewählt hat, dass Gott für Befreiung und Leben steht, dass Gott die ungerechte Herrschaft beenden wird, dass die große Zukunft Gottes schon begonnen hat. Sie erzählen von Jesus, dem Menschen-von-Gott, in dem Gott sich auf der Erde gegenwärtig gemacht hat, und zwar bei den Unterdrückten und Entrechteten. Und sie kleiden das in allgemeinverständliche, geradezu internationale Bilder: der offene Himmel, wo die Weisheit herkommt, die Taube, die Geistkraft, und schließlich die bestätigende Stimme. Das ist, in nüchternen Worten, ein überwältigendes Panorama, eine ganze Welt, deren Vokabular uns fremd geworden ist, deren Sehnsucht aber heute noch verständlich ist: nach Überwindung der ungerechten Herrschaft, nach Gerechtigkeit, nach Solidarität, nach Gemeinschaft. Nach Erfahrungen der Fülle, damit gilt: "An dir habe ich Wohlgefallen, über dich freue ich mich."
Zum Weiterlesen:
Artikel "Logos" im Wissenschaftlichen Bibellexikon
Artikel "Weisheit (Personifikation)" im Wissenschaftlichen Bibellexikon
Elisabeth Schüssler Fiorenza, Jesus: Miriams Kind, Sophias Prophet, Gütersloh 1997.