Der Krieg in der Ukraine wird vom russisch-orthodoxen Patriarchen als eine Art Notwehr gegen die liberalen Kräfte des Westens gedeutet. Vor allem im Fokus: Die Anerkennung von Homosexualität, deren angebliche Sündhaftigkeit Patriarch Kyrill in seiner Predigt vom vergangenen Sonntag (im orthodoxen Kalender der "Sonntag der Vergebung") geradezu als wichtigsten Glaubensinhalt darstellt. In dieser Deutung wird aus dem Krieg ein Kampf gegen die beschworene antichristliche liberale Agenda, die die Menschen vom wahren Glauben abbringen will. Und ganz im Einklang mit dem russischen Präsidenten Putin wird der Krieg als eine Notwehr zur Wahrung der christlichen Identität gegen die Bedrohung durch die liberalen Werte der Aufklärung dargestellt.
Dieses Denken verteidigt vor allem das Patriarchat und mit dem Patriarchat die Hierarchie zwischen Menschen. Und es ist kein Wunder, dass das Augenmerk bei dieser Patriarchatsverteidigung wie hypnotisiert auf dem Gebiet der sexuellen Identität liegt: Denn die Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt, von Uneindeutigkeit und von gleichgeschlechtlichem Begehren stellt die Geschlechterhierarchie in Frage, die aus dem strikt polaren Denken folgt. Wo es Polaritäten gibt, gibt es aller Erfahrung nach allermeistens auch eine Über- und Unterordnung. Die Aufweichung dieser polaren Ordnung wird als Aufbegehren gegen eine angeblich gottgewollte (Geschlechter-)Ordnung verstanden.
In dieser Hinsicht gibt es eine starke ökumenische Allianz der römisch-katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche: Es war der Vatikan, der das diskursvergiftende Schlagwort von der "Gender-Ideologie" geprägt hat, und der damit antiliberale, antifeministische, homo- und transphobe Haltungen legitimiert und verstärkt hat. Konsequenterweise ist der Vatikan nun nicht in der Lage, die das Evangelium entstellende Kriegsrechtfertigung des russisch-orthodoxen Patriarchen deutlich zu kritisieren. Der Sturm, den die Ukraine nun erntet, wurde verstärkt auch von den Windsaaten der römisch-katholischen Hierarchie.
Umso wichtiger ist es, in der römisch-katholischen Kirche gegen Frauenfeindlichkeit, Homo- und Transphobie einzutreten. Das Evangelium spricht vom Glauben an Gottes Frieden und Gottes Heil, von Auferstehung und Gerechtigkeit für die Unterdrückten. Es spricht nicht von den Werten von Ehe und Familie (im Gegenteil), auch die Geschlechtlichkeit des Menschen interessiert die Jesusgläubigen, die diese Botschaft zuerst in die Welt getragen haben, herzlich wenig. Ihr Evangelium gilt es hochzuhalten - als eine Absage an alle Kräfte, die den Krieg zum christlichen Kampf gegen eine Aufweichung patriarchaler Ordnung rechtfertigen wollen. Es gilt, entschieden gegen das Patriarchat aufzustehen, gerade weil es eine Pervertierung des Evangeliums ist, im Namen Jesu eine gewaltvolle patriarchale Ordnung und nötigenfalls dafür auch einen Krieg zu rechtfertigen.
Wenn es nicht so bitter traurig wäre, dann wäre es zum Lachen, dass man in der Kirche Jesu das überhaupt klarstellen muss - stellte sein Kreuz doch die Rechtmäßigkeit patriarchaler Männerherrschaft fundamental in Frage. Ausgerechnet ihn zum Garanten des Patriarchats zu machen, zur Not auch mit Gewalt, heißt, ihn und seine befreiende Lebensbotschaft für unglaublich tot zu halten.
Gleichberechtigung und Frauenrechte, Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt und ein Ende der Diskriminierung von Homosexualität sind keine Sahnehäubchen, keine "weichen" Themen für Zeiten, in denen es keine drängenden Fragen von Krieg und Frieden, Leben und Tod gibt. Sondern hier stehen die Humanität der Religion, die Achtung der Menschenwürde, die Glaubwürdigkeit des Evangeliums und dessen Hoffnung gerade für die Unterdrückten und gegen die ausbeuterischen Kräfte von Gewalt und Unterdrückung auf dem Prüfstand.