"Da bist du ja", sag ich und drehe mich vom Fenster weg. "Ich kann nicht schlafen."
"Das hab ich gemerkt", sagt Gott.
Ich wende mich wieder zurück, wir stehen am offenen Fenster und schauen in den Nachthimmel.
"Die Hüterin Israels schläft und schlummert nicht?", frag ich leise.
"Nein", sagt Gott, "das tu ich nicht."
"Ich hab gestern Abend noch Nachrichten geguckt", sag ich.
Gott sagt nichts.
"Und über allem der gleiche Himmel", sag ich nach einer langen Weile. "Und die Sterne, die über uns leuchten und nichts wissen von Krieg und Gewalt."
Ich schaue kurz zu Gott herüber. Gott schaut weiter hoch zu den Sternen.
"Und nichts hilft", sagt Gott schließlich mit Tränen in der Stimme. "Es geschieht, und es sind doch meine Kinder, und ich kann sie nicht daran hindern."
Gott weint.
"Und es sind so viele, weißt du", sagt Gott, als Gott wieder sprechen kann. "Und ich kenne doch ihre Namen und ihre Träume, und ich habe es nicht verhindern können, das Sterben nicht und das Weiterlebenmüssen auch nicht."
"Aber du wirst sie doch bewahren, oder", sag ich zögernd.
"Ja", sagt Gott und wischt sich die Tränen von den Wangen. "Aber weißt du, wie schwer das wiegt? All die Angst und all die Ausweglosigkeit? Und all die Schuld auch?"
Ich schweige.
"Nein", sag ich schließlich. "Aber ich will daran festhalten, dass da mehr ist als ein leerer Himmel mit Licht von Sternen, die schon lange tot sind. Ich muss das, verstehst du?"
"Ja", sagt Gott. "Das versteh ich."
"Ich hätte nie gedacht, dass das so passiert", sag ich. "Nie. Dass das so nah rückt, was meine Oma auch schon so vom Krieg erzählt hat. Und dass ich mich auf einmal frage, ob die Leute abseits vom Krieg damals so fassungslos auf die Nachrichten aus Polen geschaut haben wie wir heute auf die aus der Ukraine."
"Ich weiß", sagt Gott.
Der Wind fährt mit einem Stoß zum Fenster herein und ich wickele meine Strickjacke enger um mich.
"Komm", sagt Gott. "Du musst zurück ins Bett."
"Nein", sag ich. "Ich will lieber noch was bleiben. Du hast nicht zufällig ein Kerzchen dabei?"
"Nicht zufällig, aber ja, hab ich", sagt Gott und fängt an, in dem Umhängebeutel zu kramen, auf dem in bunten Buchstaben „Keine Gewalt“ steht.
"Da", sagt Gott, zieht zwei etwas zerbeulte Teelichte heraus und drückt sie mir in die Hand.
"Moment, Feuer hab ich auch", sagt Gott und holt nach kurzem weiteren Suchen eine Streichholzschachtel aus dem Beutel.
Gott zündet ein Streichholz an und schirmt das Flämmchen behutsam ab. Ich halte eines der Teelichte daran, bis der Docht aufglimmt.
Gott macht das gleiche mit dem zweiten Teelicht und schüttelt das Streichholz dann kurz, bis es schnell ausgeht. Wir stehen nebeneinander, die kleinen Flämmchen in unseren Händen flackern im Nachtwind.
"Ich muss weiter", sagt Gott schließlich.
Ich schließe sacht das Fenster, und Gott stellt das Teelicht auf der Fensterbank ab.
"Ich vergesse sie nicht, ok", sagt Gott.
"Die Lichter, oder die Menschen?", frag ich.
"Beide", sagt Gott.
Ich nicke und sage nichts.
Gott trocknet sich noch einmal mit dem Ärmel die Augen. "Hab es gut", sagt Gott leise.
"Du auch", sag ich. "Und wenn sie ausgehen, mach ich morgen neue an, ok?"
"Ja, sagt Gott. "Danke. Und Amen."