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Vom Umgang mit der Leseordnung - Zensur?

Datum:
Do. 29. Aug. 2024
Von:
Annette Jantzen

In der letzten Woche habe ich dazu aufgerufen, die Lesung aus dem Brief eines Paulusschülers an die Gemeinde in Ephesus mit ihrer Aufforderung "Frauen, ordnet euch euren Männern unter" nicht vorzutragen. 

Die Reaktionen waren vielfältig. Der Artikel wurde von der Medienseite katholisch.de aufgegriffen, und davon eine leider fehlerhafte Übersetzung ins spanischsprachige Portal Religion digital - unter anderem war dort statt vom "Terror-Text", als den ich den Briefabschnitt in Hinblick auf die Geschlechterfrage in Anlehnung an Phyllis Trible bezeichnet hatte, vom "Terroristen-Text" die Rede. Das Resultat war eine Flut an "ungebremste[m] und uninformierte[m] male hate speech", wie er unterdessen "auf kirchlichen Portalen in Social Media die Regel" ist (Julia Knop). Es gab natürlich auch Kritik von Frauen - aber die Geschlechterverteilung war schon sehr eindeutig. 

Neben diesen erwartbaren Reaktionen haben mich zahlreiche Zuschriften von Frauen und einigen Männern erreicht, die von Demütigungserfahrungen mit diesem Text erzählt haben - von Abwertung, Erniedrigung und der männlichen Genugtuung darüber, von geistlichem Machtmissbrauch und den Wunden, die er geschlagen hat.

Und dann gab es noch die Irritation darüber, dass ich tatsächlich eine Auslassung oder Ersetzung dieser Lesung empfohlen habe: Das sei doch Zensur, und man könne sich eben nicht aus der Bibel heraussuchen, was gerade passend wäre. An dieser Stelle wird es aber interessant. Denn: Es wird nur rund ein Drittel des Gesamttextes der Bibel im Gottesdienst vorgetragen. Zwar war in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1963-65) der Auftrag an die Liturgie-Kongregation ergangen, sie sollte eine Revision der Leseordnung vornehmen, die  künftig die wesentlichen Aussagen der Bibel abdecken sollte. Aber was ist wesentlich?

Die US-amerikanische Benediktinerin Ruth Fox OSB hat schon 1996 präzise dargelegt, was alles in den Sonntagslesungen fehlt - Marie-Simone Scholz hat mich dankenswerterweise auf Fox' Artikel "Women in the Bible and the Lectionary" (Liturgy 90/1996, Chicago 1996) aufmerksam gemacht wie auch auf die Arbeit der hochverdienten Agnes Wuckelt dazu. Sie weisen nach, welche Unwuchten in der Auswahl der Lesungstexte bestehen:

Wichtige Frauen des Ersten Testaments kommen überhaupt nicht vor. Debora, die Richterin, deren Lied vermutlich zum ältesten Textbestand der Bibel gehört, kommt nicht vor, dafür aber ihre drei männlichen Kollegen Gideon, Jotham und Jephtach. Wer künftig "Richter" hört, kennt demzufolge nur die Männer, nicht die Frau. Die mutigen Hebammen Schifra und Pua kommen nicht vor, deren Handeln die Macht des Pharao über die Kinder Israels verpuffen und ins Leere laufen ließ. Tamar, Rahab, Rut und Batseba kommen sonntags nicht vor, obwohl sie im  Stammbaum Jesu nach Matthäus ausdrücklich erwähnt werden - somit bleiben diese Namen den Hörenden Schall und Rauch. Nur Rut hat es mit einem Teil ihrer Geschichte in die werktägliche Leseordnung geschafft. Von Ester und Judith, Heldinnen Israels, werden nur ihr Gebet (Ester) und ihre Askese sowie ihre Schönheit (Judith) erwähnt, nicht ihre entschlossenen und durchaus handfesten Handlungen zur Rettung ihres Volkes. Die Prophetin Hulda, die die Echtheit der Schriftrolle mit den Zehn Geboten bezeugt, wird aus dem Text des Zweiten Buchs der Könige so herausgeschnitten, dass es so wirkt, als sei dieses Zeugnis vom Priester Hilkija und seinen Kollegen gegeben worden. Diese dreiste Streichung betrifft allerdings eine Werktagslesung, ob das weniger schwer wiegt? Ein ebenso manipulativer Umgang mit dem Text betrifft das "Lob der Frau" aus dem Buch der Sprichwörter, bei dem alle Tatkraft, Stärke, Autorität und Macht der Frau weggestrichen und ausschließlich ihre Ergebenheit und ihre Aufopferung für die Familie für den sonntäglichen Vortrag ausgewählt wurden, inklusive der Warnung, dass Schönheit nun wirklich nicht alles sei.

Genauso selektiv ist auch der Umgang mit den Frauengestalten des Zweiten Testaments: Das Magnifikat Mariens kommt an keinem Sonntag zum Vortrag. Die Prophetin Hanna wird weggelassen, ihr Kollege Simeon hingegen benannt. Die reuige Sünderin, die Jesus die Füße salbt, kommt einmal in drei Jahren im Sonntagsevangelium nach Lukas vor. Aber die Parallelstelle bei Matthäus nie und bei Markus nur optional - dabei wird von der Frau dort ohne den Kontext der (sexuellen) Sünde erzählt, und ihre Handlung ist eine prophetische. Diese Frau, die eben keine ausgesprochene Sünderin ist, wird vergessen - ein Bruch des Versprechens, das im Evangelium nach Matthäus Jesus selbst zugeschrieben wird: "Ich versichere euch, wo immer auf der Welt die frohe Botschaft verkündet wird, wird dies zu ihrem Gedächtnis geschehen." (Mt 26,13) Die Heilung der gekrümmten Frau kommt niemals sonntags vor, der Dialog des Lebendigen mit Maria von Magdala am Ostermorgen (Joh 20,11-18) nur optional. Ebenso optional ist die Heilung der blutflüssigen Frau, die ja zeigen würde, dass Jesus Frauen frei und ohne jede Abwertung begegnete. Die Männer der Apostelgeschichte kommen in den Sonntagslesungen der Osterzeit vor. Lukas, der Autor der Apostelgeschichte, parallelisiert deren Geschichten jedoch mit den Erzählungen über die Frauen dieser ersten Gemeinden - diese kommen in der Leseordnung aber nur werktags vor. Und bei den Werktagslesungen wird dann auch noch die Diakonin Phöbe aus der Grußliste des Römerbriefs ausgelassen.

Manche Frauen, wie Mirjam, die im Ersten Testament in positiven wie kritischen  Zusammenhängen vorkommen, werden in die Leseordnung nur mit ihren negativen Seiten oder Handlungen aufgenommen. Zuschnitte von Lesungen werden so gewählt, dass im Textfluss anwesende Jüngerinnen Jesu weggeschnitten werden oder mit als Sünderinnen bezeichneten Frauen zusammengefasst werden. Wessen Bild von Jesu Wirken sich aus den vorgetragenen Evangelien speist, die oder der erfährt noch nicht einmal, dass Jesus Jüngerinnen hatte. Alles das verzerrt das Bild, drückt Frauen an den Rand, markiert sie als Sünderinnen, wertet sie ab, verschweigt ihre Handlungen, betrachtet sie als Objekte, nicht als Subjekte. Aber diese Texte sind in einem ausgesprochen patriarchalen Umfeld entstanden. Wenn dann solche Geschichten in der Bibel stehen, die Frauen beim Namen nennen, von ihren Taten erzählen, sie als Prophetinnen, Anführerinnen, Jüngerinnen vorstellen, dann ist das etwas Besonders. Das ist zu heben und zu feiern, denn es ist das Nicht-Selbstverständliche. Das sind die Stellen, an denen etwas Neues, Unerwartetes in die Welt und in den Text kommt, theologisch gesprochen: Das ist der Ort des Heiligen im Text. Es ist nicht angemessen, das wegzuübersetzen, zu glätten, zurechtzuschneiden, wegzulassen, denn es verstümmelt die Bibel als Gotteswort im Menschenwort.

Wer schreibt, bleibt. Und wer eine Leseordnung zusammenstellt, bestimmt darüber, von wem noch gehört wird, und von wem nicht. Die aktuelle römisch-katholische Leseordnung gibt die Bibel nicht vollständig wieder, und die Auswahl, die sie trifft, berücksichtigt wichtige Texte der Bibel nicht. Die Unwucht zuungunsten der Frauentexte ist unübersehbar. Das gilt nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Gottesbilder - auch hier sind die weiblichen Bilder des biblischen Textes deutlich unterrepräsentiert.

Auch andere die Auswahl offensichtlich leitenden Denkmuster und Vorstellungen sind ein Problem, weil sie ein Verständnis der Bibel nahelegen, tradieren und einschärfen, das theologisch längst überholt ist: Die Auswahl der Texte des Ersten Testaments vor allem, das diesen ersten Teil der Bibel ausschließlich als Stichwortgeber für das Zweite Testament benutzt und damit dessen Verständnis als einer zweitrangigen Schrift immer wieder reproduziert, denn es wird damit nur über den Umweg des Zweiten Testaments als relevant dargestellt. Auch die durch die Lesungszuschnitte vollzogene Gleichsetzung des Zwölferkreises mit den Aposten mit den Jüngern Jesu ist hier zu nennen, die die heutige Autoritätsstruktur der Kirche am Text des Zweiten Testaments vorbei begründen soll.

Das Weglassen wichtiger Frauengeschichten fällt umso mehr ins Auge, als Passagen wie die Lesung aus dem Epheserbrief, die schon tief durchdrungen sind vom patriarchalen Zeitgeist, nicht aber von Jesu Vorbild im Umgang mit Frauen, in die Leseordnung aufgenommen wurden, in der doch so vieles fehlt. Die Empfehlung, hier von der Leseordnung abzuweichen, ist angesichts dieses Befundes alles andere als Zensur. Die Leseordnung trifft eine Auswahl, die so tut, als sei sie vollständig, als sei sie vom Himmel gefallen und als sei sie unantastbar. Sie ist aber in einer bestimmten Zeit und von bestimmten Menschen erstellt worden, und diese Menschen haben ihren Blick auf Kirche und Welt das Bild bestimmen lassen. Die Empfehlung, die Epheser-Lesung durch eine nie vorgesehene Lesung wie etwa aus dem ersttestamentlichen Hohelied zu ersetzen, war ein kleiner Baustein beim Bemühen, das zu ändern.

Ich bin mir nicht sicher, ob eine Änderung der Leseordnung noch etwas nützt. Es scheint mir wie eine Diskussion über die Farbe des Lösch-Schlauchs, während die Kathedrale schon längst in Flammen steht. Aber wenigstens für diejenigen, die überhaupt noch die Sonntagsgottesdienste mitfeiern und dabei auch noch zuhören, wäre es wichtig, und es könnte ein Hebel zur Veränderung sein. Die gleichen Vorverständnisse wie beim Umgang des Lektionars mit der Bibel sind ja auch leitend, wenn es um die Rechtsstruktur der Kirche geht, um den Umgang mit Macht, um die Ablehnung moderner Wissensbestände inklusive hilfreicher Instrumente wie der Gendertheorien und um die Unterordnung der Theologie unter das Lehramt. Auch hier stehen eine unhinterfragte Degradierung von Frauen, eine unterkomplexe Vorstellung von Gottes Geschichtsmacht und eine Legitimierung eigener Machtinteressen Pate für die Gegenwartskrise der Kirche. Die Bibel als Buch, dem wir Bedeutung geben, dessen Gottesgeschichten wir weitererzählen, das uns etwas Wesentliches über uns selbst und über Gott erzählen kann, sie kann mehr. Es ist noch so viel zu entdecken, Schwestern.

 

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