Zu meinen schönen Kindheitserinnerungen gehört es, wenn wir als Familie jedes Jahr an Allerheiligen einen Besuch auf dem Friedhof machten. Anders als heute war es am 1. November meist schon winterlich kalt. In dicken Jacken machten wir uns also auf den Weg, um die Gräber unserer Lieben zu besuchen.
Die Atmosphäre auf dem Friedhof war für mich an diesem Tag immer faszinierend und geheimnisvoll: die brennenden Kerzen überall im Dämmerlicht, die Stille ringsum, manchmal auch die still fallenden Schneeflocken und ein Gefühl von tiefem Frieden, das von alledem ausging. Innerlich fühlte ich mich verbunden mit den Großeltern und anderen Verwandten, an deren Gräbern wir verweilten in Dankbarkeit für alles, was sie uns bedeutet hatten.
Auf dem Grabstein meiner Großeltern war auch der Name ihres einzigen Sohnes angebracht, meines Onkels Kurt, den ich nie kennengelernt habe. Er war als Soldat in Russland und gilt seit Kriegsende als vermisst. Noch in den letzten Kriegstagen hatte ein Kamerad Kontakt mit ihm, dann verliert sich seine Spur. Viele Jahre später, beim Ausräumen der Wohnung meiner Mutter nach deren Tod, fand ich zu meiner Überraschung ein kleines Tagebuch, das ihr Bruder an der Front geführt hatte. Ich hielt es in Händen wie einen kostbaren Schatz und fragte mich, wie es wohl den Weg zum elterlichen Haus gefunden hatte. Als ich darin las, war ich tief berührt von den Erfahrungen und Empfindungen, die in dem Büchlein festgehalten waren. Besonders beeindruckt hat mich das tiefe Gottvertrauen in und zwischen den Zeilen. Das ist für mich ein wertvolles Vermächtnis. Gerade in einer Zeit wie der Jetzigen, in der uns Kriege und Krisen Angst machen können, nehme ich mir ein Beispiel an diesem jungen Soldaten, der in sein Tagebuch schrieb: Was immer auch geschieht, ich weiß mein Leben in Gottes Hand! Diese glaubende Zuversicht wünsche ich uns allen.
Sr. Martina Kohler SSpS