Gott war der Machtvolle, Unnahbare und Unbekannte. Nur mit Furcht und Zittern konnte man sich ihm nahen. Das bleibt für die ganze Zeit des Alten Testamentes so. Im Tempel gab es kein Bildnis von Gott. Der Platz, an dem in anderen Tempeln das Götterbild stand, blieb im Jerusalemer Tempel leer.
Mit Jesus ändert sich das. Als Christen glauben wir, dass Gott uns in Jesus ein Bild von sich geschenkt hat. Keiner sollte sich ihm mit Furcht nähern müssen. Das zeigt schon seine Geburt in der Höhle von Bethlehem. In Jesus kommt Gott dem Menschen auf Augenhöhe entgegen.
Auch das neue Misereor-Hungertuch können wir auf diese Weise betrachten: Zwei schauen sich an - ohne Furcht, gelassen, voll Vertrauen, auf Augenhöhe ...
Das Grün der linken Bildhälfte kann für das Grün der Schöpfung, das Gelb der rechten Seite für den Bereich des Göttlichen stehen. Der weiße Strich zwischen den beiden Bereichen erinnert an die Grenze, die Gott und seine Schöpfung seit dem Sündenfall trennen. Die Schlange hat damals das Urvertrauen zwischen Gott und Menschen zerstört. Das Band, das Gott und Menschen verband, ist zerrissen.
Aus eigener Kraft kann der Mensch dieses Band nicht wieder zusammen knüpfen und den Riss heilen. Die Initiative dazu muss von Gott ausgehen. Durch sein Wort und seine machtvollen Taten hat Gott in der Zeit des Alten Testamentes immer wieder Schritte auf die Menschen zu getan. Den entscheidenden Schritt aber hat er in der Menschwerdung Jesu getan. In den menschlichen Augen Jesu schaut der himmlische Vater den Menschen mit seiner ganzen Liebe an. Und der Mensch darf Gott in den guten Augen Jesu, in seinem Leben und Wirken, erkennen. Im vertrauensvollen Blick, der die beiden Gestalten auf dem Hungertuch verbindet, kommt dies zum Ausdruck.
Diesen gegenseitigen liebevollen Blick kann man auch Gebet nennen. Vom heiligen Pfarrer von Ars wird erzählt, dass er beim täglichen Gang durch seine Kirche immer wieder einen Bauern antraf, der stundenlang in einer Bank saß und still zum Tabernakel schaute. Eines Tages sprach er ihn an: "Was tust du hier die ganze Zeit?" Der Bauer antwortete: "Ich schaue Ihn an, und Er schaut mich an. Das genügt."
Im Blick Jesu darf ich die Liebe Gottes zu mir und allen Menschen entdecken, denn er ist ja in diese Welt gekommen, um uns seine Liebe zu bringen und vorzuleben. Sein Blick auf mich vermag die Wunden meiner Seele zu heilen. Mein Blick auf ihn schenkt mir die Zuversicht, von Gott geliebt zu sein, er gibt Kraft und Mut zum Leben und zum Lieben, wie er es getan hat, und lässt mich verstehen, dass ich, ganz in seiner Liebe geborgen, seine Liebe in diese Welt hinein tragen darf.
Pfr. Bernd Schmitz CO