"Es fängt an zu frieren. Das hab ich in den Knochen," sagt der Eifler Nachbar zu mir.
Es ist kalt geworden. Gestern haben wir Äpfel geerntet. Ich hab in meinen Knochen nur den Muskelkater von den ungewohnten Bewegungen. Aber er fühlt da noch mehr, Dinge, die man mit Augen oder Verstand nicht sehen kann: Umschwünge, Spannungen, das, was auf uns zu kommt.
"In den Knochen ist das Leben," sagen meine Naporuna-Nachbarn und meinen damit die Essenz des Lebens, das eigentliche Leben selbst. Aus den Knochen und dem Knochenmark entsteht das Leben. Die Knochen sind der Teil des Körpers, der nach dem Tod am längsten erhalten bleibt. Die Knochen weisen darauf hin, dass die toten Verwandten weiter mit uns leben, noch da sind.
Ihre Vorfahren, das Volk der Om aguas, das mit seiner Bootsfahr- und Keramikkunst zwischen 1200 und 1600 n. Chr. fast das gesamte Amazonasbecken belebte, begrub die Knochen seiner Toten mit ganz besonderen Riten.
Die Toten wurden zuerst auf die Zweige eines großen Baumes gelegt. Dort wurde der Körper sehr schnell von den Tieren des Waldes, vor allem den Ameisen und Geiern gefressen. Die Knochen blieben intakt, wurden von der Äquatorsonne gebleicht und getrocknet. Währenddessen machten sich die Keramikkünstlerinnen daran, große, runde Urnen und Deckel zu formen, manchmal wie ein schwangerer Mutterleib, manchmal in Form eines Schamanen mit allen Ehrenzeichen seiner Berufung. Die Urnen wurden mit Haar- oder Holzpinseln rot, schwarz und weiß bemalt. Es sind die Farben des Lebens selbst. Rot steht für Blut, für das Weibliche und die roten Chontafrüchte, das Hauptnahrungsmittel. Schwarz sind die Speere der Männer, aus hartem, unverwüstlichen Chontaholz. Weiß ist das Licht, das alle Farben in sich aufgenommen hat, die Fülle des Lebens. Die Zeichnungen stellen oft Tiere dar, starke Urwaldtiere in Form eines Embryos, Krokodile und Schlangen, die in zwei Welten leben können. Manchmal sind auch die Menschen dargestellt, von denen man Abschied nehmen musste. Zwei Liebende sind auf je einer Seite einer sehr großen Urne abgebildet. Bevor man die Urne, die unter dem Stelzenhaus einer Familie aufbewahrt wurde, ins Museum der Stadt Coca bringen konnte, waren die Zeichnungen, die in der Erde vorher Jahrhunderte überdauert hatten, jedoch schon von Wind und Wetter verwittert. Im MACCO, dem Museum, das zugleich Kultur- und Versammlungshaus ist, gibt es jedoch noch viele Jahrhunderte alte Omagua-Urnen in voller Farbenpracht. Jedes Jahr zu Allerheiligen werden die alten Riten dort als Theaterszenen aufgeführt und der jungen Generation gezeigt.
Was bleibt sind Knochen, weiße und blutrot angemalte Knochen, die Essenz des Lebens, bereit für den Übergang in andere Welten und Herzen - - -