DIE MITTE DER WELT

Folge 39 des Blogs "WELTEN - SPRÜNGE. Eifel, Amazonas und zurück" von Friederike Peters

Mitte der Welt (c) Friederike Peters
Mitte der Welt
Datum:
Mo. 28. Juni 2021
Von:
Friederike Peters

"Wo kommst du her?" - "Aus Deutschland." - "Hmm, ist das da - da hinter Kolumbien?" - "Ja, aber noch viel, viel weiter. Da kommt noch ein Ozean. Der ist wie ein riesiger, riesiger See. Dann kommt Spanien, dann Frankreich und dann erst Deutschland." Diese Frage habe ich viele Male beantwortet, ohne dass sich meine Naporuna-Nachbarn dann wirklich vorstellen konnten, wo dieses unbeschreiblich ferne Land liegen könnte.

Äquatorlinie (c) Friederike Peters
Äquatorlinie

"Und wo hast du gearbeitet?" fragt mich jemand hier am Niederrhein. "In der Mitte der Welt." - "In China?" - "Nein, in der anderen Mitte." - "Wie?" - "Die Mitte der Welt ist in Ecuador." - "Wieso?" - "Ecuador ist das spanische Wort für Äquator und der geht mitten durch das Land. Ecuador liegt auf der Mittellinie zwischen Süd- und Nordpol. Ecuador ist sehr stolz darauf, in der Mitte der Welt zu sein. Ich hab da im Orient gearbeitet. Das ist der Osten von Ecuador, im Amazonasgebiet."

Letztes Wochenende war ich mit dem Zug unterwegs ins südliche Ostwestfalen. Im Radio an meinem Ohr tönte der Slogan des WDR: "Wir sind der Westen!" und das Ganze fand in Nordrhein-Westfalen statt. Wieso sind wir der Westen, wenn Ecuador 11000 km weiter westlich liegt? Wo sind wir eigentlich?

Das kommt auf die Perspektive an. Wo stehe ich?
Von wo aus sehe ich auf das Andere, das Fremde? Von wo aus sehe ich auf das Bekannte, das Eigene? Im "Westen" ist mit unserem Standpunkt fast immer auch ein Vergleich und eine Bewertung verbunden. Wenn Ecuador dann noch weiter im Westen liegt als der "Westen", gehört es plötzlich zu den Ländern des Südens. Von denen meint man zu wissen, dass die Menschen dort nicht nur weiter südlich wohnen, sondern deswegen auch weniger entwickelt, weiter zurückgeblieben und weniger zivilisiert sind, als sie im "Westen".

Die Naporuna im Westen des Amazonasgebietes haben gar keine Wörter, um etwas zu vergleichen und damit zu bewerten. Die Eigenschaftswörter haben keine Steigerungsformen. Man kann nicht sagen: "Gut, besser, am besten, klein, kleiner, am kleinsten. Ich bin klüger als du. Du bist ärmer als ich. Das ist besser für dich."
Man sagt stattdessen: "Dieses Haus ist groß. Das Haus ist auch groß. Diese Lösung ist gut. Die andere funktioniert nicht. Dieser Weg ist weit, der ist kurz. Der ist kein kluger Mensch, die andere weiß viel."
Diese "Armen", die haben nicht mal eine "zivilisierte" Sprache, sagte eine Mitarbeiterin aus dem "Westen". Den "Weißen" fehlt der Respekt vor den Menschen, wenn sie immer die Einen mit den Anderen vergleichen, meinen die Naporuna. Jeder Mensch hat Respekt verdient.

Wo bin ich eigentlich, jetzt nach anderthalb Jahren Aufenthalt in Deutschland?
Meine Mitte der Welt ist da, wo mein Herz ist. Das schlägt weiterhin aus wie ein Pendel zwischen Deutschland und Ecuador. Es gibt nicht nur eine Mitte der Welt. Die Welt ist "Gott sei Dank" eine Kugel. Auf ihrer Fläche gibt es Platz für viele Mittelpunkte. Von mehreren Mittelpunkten aus die Welt anzusehen, macht meine Welt-Sicht nicht einfacher, aber vielfacher, vielfältiger. Wird sie der realen Welt damit gerechter? Und wieder bin ich bei meinen deutschen Steigerungsformen und Vergleichen.

Ich, wir können von allen Mittelpunkten aus beitragen, unsere Welt vielfältig, respektvoll und so gerecht wie möglich zu gestalten. Da ist noch Einiges an Steigerung möglich und not-wendig - - -