Ein Indígena ruht einen Moment lang aus, direkt an der Zentraluniversität, die den Indigenen ihre Gebäude als Hauptquartier zur Verfügung gestellt hat. Gerade werden die Aufständischen von Hilfsorganisationen mit Essen und Erster Hilfe versorgt, Polizisten mit schwarzen Schutzhelmen auf Motorrädern fahren in hoher Geschwindigkeit vorbei, schießen ihn an und verschwinden wieder. Entsetzen und Wut in den Gesichtern der Augenzeugen, die live im TV Sender der Indígenabewegung berichten.
So geschehen am 23. Juni, dem 12. Tag des landesweiten Streiks der Indigenen in Ecuador. Überall im Land sind sie auf den Straßen, bei Straßenblockaden, auch in der Hauptstadt Quito und rund um die Regierungsgebäude einiger Provinzhauptstädte.
Aber dieser Streik ist anders als alle bisherigen, die seit den 90er Jahren alle paar Jahre das Land stilllegen. Dieses Mal reagiert die Regierung als sei sie im Krieg, der taktisch angegangen und gewonnen werden muss, koste es, was es wolle. In der Woche vor dem Streik hat sie das Gesetz zur legal zunehmenden Anwendung von Gewalt seitens der Polizei und des Militärs durch das Parlament gebracht.
Schon in der zweiten Nacht wurde der Vorsitzende der nationalen Indianerbewegung Leonidas Iza, als er ohne Aufhebens verschiedene Streikposten besuchte, festgenommen, angeblich während terroristischer Aktivitäten. Durch gemeinsame Anstrengung von Anwälten, Organisationen und Institutionen musste er wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Am folgenden Tag wird das Auto, das er gerade verlassen hat, beschossen. Iza macht weiter, besteht darauf, dass es nicht um seine Person geht, sondern um die zehn Punkte, die die Generalversammlung aller organisierten Indígenavölker Ecuadors ausgearbeitet hat. Sie machen etwa 40 bis 50 % der Bevölkerung aus - je nach Zählweise. Vor allem möchten sie erreichen, dass die teuren Spritpreise gesenkt werden, dass ihre Schulden gestundet werden, dass die Erdöl- und Rohstoffförderung in ihren Territorien aufhört, dass die 21 Rechte, die speziell sie laut Verfassung haben, respektiert werden. 2019 beim letzten landesweiten Streik 2019 wurden konkrete Verbesserungen ausgehandelt, aber bis heute von Regierungsseite nicht umgesetzt. Jedes Vertrauen in die Regierung ist verloren.
Inzwischen überzieht die Gewalt alles. Straßenschlachten zwischen Vermummten und der Polizei werden täglich brutaler. Vermummte sind in die Gebäude der obersten Aufsichtsbehörden des Staates und der Finanzen eingedrungen und haben zerstört, was sie erreichen konnten. Vermummte mischen sich mit Gewalt in friedliche Protestmärsche der Indígenas und anderer sozialer Organisationen ein. Zivilisten sind zu (Kriegs-)Zielen geworden, statt wegen ihrer Menschenrechte geschützt zu werden. Einige Polizisten, Militärs und Indígenas schlagen voll Zorn mit Gewalt zurück. Medien berichten einseitig und auch für die, die verstehen wollen, ist das Chaos kaum noch zu durchschauen.
Es scheint so zu sein, dass die Regierung des Präsidenten Lasso im gefährlichen Machtpoker mit den Anhängern des Expräsidenten Correa begriffen ist. Politische Analysten nehmen an, dass sowohl Lasso als auch Correa Gruppen von Vermummten in den Streik schicken, um bewusst Chaos zu schüren zugunsten des jeweiligen Auftraggebers und zum Schaden des Gegners. Beide Opponenten könnten dabei leicht den Indigenen und sozialen Bewegungen die Schuld für jede Art von Ausschreitung in die Schuhe schieben. Von vielen wird vermutet, dass Präsident Lasso in seinen Bestrebungen von den USA und Expräsident Correa von internationalen Drogenkartellen unterstützt werden, die ihre jeweiligen geopolitischen Interessen schützen wollen. Einem Teil der nationalen Indigenenbewegung CONAIE und einer Reihe von Abgeordneten ihrer Partei PACHAKUTK wird vorgeworfen, mit Correa zu kooperieren, der in der Zeit seiner Präsidentschaft den Indigenen großen Schaden zugefügt hat. Ein schwelender Richtungsstreit innerhalb der CONAIE könnte zum Brand werden, wenn jemand Benzin hineingießt.
Von allen Seiten wird zum Dialog aufgerufen. Während Leonidas Iza die Indigenen immer und immer wieder auf Zusammenhalt und friedlichen Protest einschwört, kündigt der Polizeiminister an, dass das Land noch konsequenter gegen jeden Angriff verteidigt wird. Die Bischofskonferenz und die Universitäten wollen vermitteln. Aber noch gibt es keinen Raum, keinen Versammlungsraum, keinen Vertrauensraum, keinen Verhandlungsraum, keinen Lebensraum.
Das Parlament debattiert am Wochenende auf Antrag der correanahen Partei über die Absetzung des Präsidenten und dann mögliche Neuwahlen. Am Sonntag kommen die festgefahrenen Seiten in Bewegung. Die CONAIE und die sozialen Bewegungen haben für Montag, den 27. Juni einen weiteren Tag für interne Beratungen angesetzt und erlauben den Lastwagen mit medizinischen und landwirtschaftlichen Gütern die freie Durchfahrt über die landesweiten Durchgangsstraßen. Am Dienstag soll es einen weiteren Protestmarsch durch Quito geben. Präsident Lasso senkt die Benzin- und Dieselpreise um 10 Cent pro Gallone. Das Parlament wird weitere Entscheidungsträger anhören und hat seine Entscheidung über die Absetzung des Präsidenten hinausgeschoben. Der nächste Teil der Parlamentssitzung ist für Dienstag, den 28. Juni angesetzt.
Ecuador ist laut Verfassung ein pluri-nationales Land, gehört vielen Nationen, die sich einigen müssen. Das wird unmöglich sein, wenn die Gruppen der Mächtigen mit internationaler Unterstützung, den Reichtum des Landes nur für ihre jeweilige Gruppe beanspruchen und mit Gewalt an sich reißen.
Um den 24. Juni herum feiert man Inti-Raymi, Sonnenwendefest in Ecuador, das wichtigste indianische Fest im Bergland Ecuadors. Die Sonne wendet sich - hoffentlich wendet sich das Blatt - - -
Friederike Peters
Weidenbach, 24.6.2022