IM DUNKELN SEHEN

Folge 11 des Blogs "WELTEN - SPRÜNGE. Eifel, Amazonas und zurück" von Friederike Peters

Mondlicht (c) Friederike Peters
Mondlicht
Datum:
Mo. 14. Dez. 2020
Von:
Friederike Peters

Ich kann die Hand nicht vor den Augen sehen. Und diesmal ist es wörtlich gemeint. Ich halte meine Hand noch einmal direkt vor die Augen, weil ich es selbst nicht glauben kann. Es sind vielleicht 10 cm Abstand, und ich sehe - nichts, schwarz.

Kaffee im Dunkeln (c) Friederike Peters
Kaffee im Dunkeln

Es ist die Nacht nach dem Vollmond, die Sonne ist gerade untergegangen und es ist - schwarz. Sterne sieht man keine. Es ist bewölkt. Der Mond geht erst nach etwa einer Stunde auf. Elektrisches Licht gibt es im 40 km Umkreis nicht. Ich hätte mir bis dahin nicht träumen lassen, dass das Wort von der Hand vor den Augen tatsächlich wahr werden kann.

Am Nachmittag bin ich zu Fuß ins Nachbardorf gegangen zur Versammlung. Es ist mein erstes Jahr in Ecuador. Ich arbeite in den Dörfern der AfroecuadorianerInnen im Miratal. Dort geht man von Dorf zu Dorf den alten Schienenstrang entlang. Der Zug fährt nur noch alle paar Monate einmal. Er wurde durch den Bus ersetzt, einmal die Woche fünf Stunden zur nächsten Stadt.
Jetzt ist es etwa 18 Uhr. Es wird schnell dunkel, die Leute gehen nach Hause und ich sollte das auch tun, muss aber noch dreiviertel Stunde weiter über den Schienenstrang. Irgendein Problem? Keines für die Leute, aber sie wissen, dass ich das nicht kann. Sie schicken den Dorfleiter mit mir. Taschenlampen mit funktionierenden Batterien sind einfach zu teuer. Die braucht hier auch keiner. Homero nimmt mich an die Hand und ich folge ihm, Bahnschwelle für Bahnschwelle spür ich unter den Füßen. Er führt mich gut. Als ob er im Dunkeln sehen könnte - - -

Jahre später bin ich im Amazonasgebiet, am Napofluss. Im Hauptdorf Nuevo Rocafuerte gibt es täglich einige Stunden Strom, in den meisten anderen Dörfern gibt es keinen. Wann immer möglich, sitze ich morgens ganz früh, wenn alles noch dunkel ist, mit meiner ersten Tasse Kaffee vor der Tür, genieße die Brise vom Fluss, das Sternenlicht, den Mond oder auch die absolute Dunkelheit, wenn der Mond andere Wege geht und die Sterne sich hinter den Wolken versteckt halten. Die Jäger und Fischer der Naporuna sind auch längst draußen im Wald und am Fluss. Die Tiere der Nacht suchen noch ein letztes mal Futter vor dem Schichtwechsel. Die Fledermäuse kommen zurück und hängen sich an ihre Dachbalken. An irgendeinem Morgen, der wie immer schien, wird mir plötzlich klar, dass ich ja längst sehen kann - im Dunkeln - - -

Wenn die Hand vor den Augen völlig verschwindet, ich einige Zeit still warte ohne Angst, dann verändert sich mein Sehen, meine Wahr-nehmung. Eine Taschenlampe, alle unsere tausend Lichter können nur einen kleinen Ausschnitt beleuchten und machen alles andere schwarz. Die Augen, die im Dunkeln sehen, nehmen die gesamte Umgebung wahr. Das wird zu einer der faszinierendsten Erfahrungen meines Lebens. Wir können lernen, im Dunkeln zu sehen. Wir können lernen, Wege durch das Dunkel hindurch zu finden, wenn wir uns trauen, es wahr zu nehmen - - -

"DAS VOLK DAS IM DUNKEL LEBT, SIEHT EIN HELLES LICHT." (Jes 9,1)