Adriana ist Hebamme in ihrem Dorf am Napofluss, seit ihrer Jugend. Sie ist verheiratet, Mutter von sieben, inzwischen erwachsenen Kindern und Großmutter vieler Enkelkinder.
Ihre Kenntnisse der Naporunamedizin hat sie von ihrer Mutter, von anderen Hebammen und aus eigener Erfahrung. Hebammen, die die sogenannte "westliche" Medizin studiert haben, sind hier so selten wie ein funktionierendes Krankenhaus. Das nächste ist 120 km entfernt. Eine Schwangere zur Geburt mit Kanu oder Motorboot dorthin zu fahren, kann tödlich sein. Die Frauen vertrauen Adriana mehr als jeder anderen Hebamme. Viele Frauen der Umgebung können Geschichten davon erzählen, wie sie mit Naturmedikamenten aus dem Urwald Geburten eingeleitet, zu frühe Wehen gestoppt oder auch Kinder mit ihrer Hand im Mutterleib gedreht hat, damit sie heil und gesund geboren werden können. Sie ist keine Wunderheilerin, auch in ihrer Hand starben Mütter und Kinder. "Ich konnte ihnen nicht helfen, sie hatten keinen Lebensgeist mehr," sagt sie, "sie konnten nicht leben."
Adriana ist nicht nur Hebamme, sie ist auch die Katechetin, die religiöse Leiterin des Dorfes. Sie wird gefragt, wenn jemand sich nicht mehr genau erinnert, wie die Naporuna-Hochzeitsriten, die Naporuna-Taufe, Beerdigung oder das Naporuna-Weihnachtsfest ablaufen sollen. Alle diese Feste und Riten werden von den jeweils betroffenen Familienmitgliedern organisiert und geleitet, aber jemand muss ja im Blick haben, dass alles richtig gemacht wird. Das ist Adriana. Ihre Arbeit als Katechetin ist eigentlich auch eine Hebammenarbeit. Sie ist nicht die Mutter des Festes, aber sie bringt es zur Welt. Vor ein paar Jahren hat sie angefangen, die alten Mythen und Legenden ihres Volkes wieder neu zu erzählen (siehe auch Welten-Sprünge Nr. 25-27) während eines Gottesdienstes oder im Gespräch. Die Lebensvorstellungen, Werte und Weisheiten ihres Volkes sind hier verdichtet und werden von ihr zu neuem Leben erweckt. Die jungen Leute ihres Dorfes haben diese alten Geschichten wieder in ihr Leben hineingenommen und stärken sich damit, wenn es zum Beispiel darum geht, ihr Land und Dorf vor der Erdölfirma zu vertreten, die ihnen den Boden unter den Füßen zerstört.
Hebamme und Katechetin sein ist eine Gemeinschaftsaufgabe, keine bezahle Tätigkeit. Die Menschen "bezahlen" sie, wenn sie können, mit Lebensmitteln oder Hilfsdiensten. Adriana muss zum Überleben ihr Urwaldfeld selbst bestellen. Ihre Aufgabe bringt ihr Achtung, aber auch Kritik ein, wenn sie wieder mal in der Dorfversammlung darauf aufmerksam macht, dass es Gewalt in den Familien, geklaute Gegenstände und nicht eingehaltene Versprechen gibt. Nicht allen gefällt es, wenn jemand ein Auge auf sie hat. Für Adriana ist das ein Teil ihrer Aufgabe, denn sie möchte ihre Leute anregen, einen Weg zum Leben zu gehen und Krankmachendes zu heilen.
Der Pfarrer kommt meist einmal im Monat zu Besuch, in anderen Gegenden noch viel seltener. Dann werden in der Messe Kinder offiziell in die katholische Kirche hinein getauft, gehen zur ersten Kommunion oder ein Paar gibt sich das Eheversprechen vor dem Priester und der Gemeinde. Dazu bereitet Adriana Kinder und Eltern auf die Sakramente vor, leitet den Gottesdienst und tauft, auch dann, wenn der Pfarrer dabei ist. Adriana hat auch den Pfarrer vorbereitet auf die Situation des Dorfes. Der kommt meist am Tag vorher ins Dorf, übernachtet in Adrianas Familie und ist schon auf dem neuesten Stand, bevor er andere besucht und die Sakramente feiert. Im Gottesdienst hält Adriana genau wie der Pfarrer eine Predigt, in der sie den Bibeltext und eine Naporunalegende erklärt und mit der Situation im Dorf vergleicht.
Menschen wie Adriana haben in Amazonien generationenlang ohne Besuch irgendeines Priesters oder Missionars die Kirche lebendig erhalten und immer wieder neu an das reale Leben herangeführt. Menschen wie Adriana haben im Urwald von der Lebenskraft des Geistes erzählt und sie weitergegeben.
Auf die Kirche als Institution konnten sich die Menschen am Amazonas noch nie verlassen, von ihr wurden sie immer wieder verlassen. Wichtig sind nur die wenigen Frauen und Männer, die als Teil der Institution tatsächlich an ihrer Seite waren und sind, wenn es ums Über-Leben geht, um Essen, Land, Arbeit und WÜRDE. Diese Menschen kennt man mit Namen, sie haben einen Naporunanamen oder wurden, wie der erste Bischof des Vikariates Aguarico, Alejandro Labaka, von einer Waoranifamilie adoptiert.
Auch Papst Franziskus ist mit Namen bekannt. Wenn im Katechetenkurs der Brief an sein "Geliebtes Amazonien" studiert wird, fühlen sie, dass sie gemeint sind, dass sie endlich einmal gehört, gesehen und gewürdigt werden.