Irma ist verzweifelt. Sie hat Angst - Todesangst. Es reicht einfach nicht. Sie haben den Familienrat einberufen. Alle Onkel, Tanten, Kusinen und Verwandten haben Geld gegeben. Aber es reicht einfach nicht! Mehr geht nicht, denn sie haben ja für einen anderen Vetter letzten Monat auch schon gegeben. Irma wird also sterben müssen. Sie ist 35 Jahre alt, hat vier Kinder und ist kerngesund. Sie hat einen guten Mann, lebt gern am Napofluss. Hier im Amazonaswald haben sie immer gewohnt und sie will weiter leben.
Aber jetzt hat jemand ihre Spuren geklaut. Sie weiß nicht, wo und wann, aber irgendjemand hat auf dem Feld oder den Waldwegen ihre Fußabdrücke in der Erde vorsichtig aufgehoben, in eine Tüte getan und diese nach Ambato gebracht, weit weg ins Bergland, zu einem berühmten Wahrsager und Wunderheiler, dessen Namen nur im Flüsterton und gerüchteweise weitergegeben wird.
Irgendjemand ist neidisch auf Irma. Irgendjemand ist ihre Feindin geworden. Ob es die Frau vom anderen Flussufer ist? Die hat sie immer schon wütend angeguckt, wenn Irma ein neues Kleid anhatte. Außerdem gab es da doch diesen Streit wegen der Hühner, die ausgerechnet das Gemüsebeet dieser Nachbarin weggefressen haben. Diese Familie war doch immer schon schlecht zu sprechen auf Irmas Familie. Und jetzt hat Irmas Mann auch noch eine Arbeit im Erdölcamp gefunden, Wege freischneiden, drei Monate lang. Da wird ein Tausender zusammenkommen. Damit wollten sie endlich das Hausdach flicken.
Jetzt ist alles vorbei. Irma wird sterben. Gestern hat sie den Brief bekommen. Sie war in der Hauptstat Coca gewesen, um zwei Säcke Kakaobohnen zu verkaufen und dafür Öl, Salz und eine Schuluniform zu kaufen für den ältesten Sohn. Vor der Rückfahrt mit dem öffentlichen Boot, als sie am Hafen wartete, hatte ein Unbekannter ihr einen verschlossenen Brief in die Hand gedrückt mit ihrem Namen vorne drauf. Bevor sie fragen konnte, von wem, war der Mann in der Menge verschwunden. Sie hatte den Brief geöffnet und da stand es: Wenn sie nicht innerhalb von drei Wochen 2500 US$ nach Ambato bringen würde, um dort ihre Spuren einzulösen, würde sie sterben. Ihre Spuren lägen neben ihrer brennenden Lebenskerze beim Wunderheiler. Die Kerze würde noch drei Wochen brennen können und dann verlöschen - für immer - wenn sie nicht bis dahin ihre Spuren zurückholt.
Ihre Feindin hatte ihr das angetan. Irma ist überzeugt zu wissen, wer das war. Die Feindin hat die Spuren nach Ambato gebracht, dort die Aufbewahrungsgebühr bezahlt, etwa 300 US$, und der Zauber beginnt zu wirken. Er zehrt an ihren Nerven, weil sie nicht mehr schlafen kann, am Blutdruck, an ihrem Herzen - - - Sie hat Angst, ihre Familie hat Angst. Zu viele sind in der Umgebung schon gestorben an geraubten Spuren, die man nicht zurückholen kann - Leben, das man nicht zurückholen kann.
Irma erzählt mir vom Kampf um ihr Leben, während ich als Lehrerin jeweils eine Woche monatlich in ihrem Dorf arbeite. Ich bin mit großem Rucksack unterwegs und habe meine Sachen in Plastiktüten eingepackt, damit der Tropenregen nicht alles durchnässt. Als ich auspacke, strahlt mir plötzlich leuchtend orange die Botschaft entgegen:
GEIZ IST GEIL.
Eine Plastiktüte, aus Deutschland mitgebracht, zeigt, was wir gemeinsam haben: NEID IST GELD und kostet uns das Leben - - -