Tamara ist seit ihrer Jugend sozial engagiert: Zuerst ging sie den üblichen sowjetischen Weg als Komsomol-Mitglied der Nachwuchsorganisation der Kommunistischen Partei Russlands. Dann schloss sie sich der Freiwilligenbrigade in der Fabrik an - sie ging auf Subbotniks, das sind unbezahlte Arbeitseinsätze an Sonntagen, half Rentnern bei der Kartoffelernte, patrouillierte abends durch dunkle Gassen, und als die Sowjetunion zusammenbrach, fand sie eine soziale Tätigkeit in der Wohnungsgenossenschaft, indem sie ihren älteren Nachbarn half. Als sie in den Ruhestand ging, schloss sie sich der Freiwilligenorganisation "Silvers Volunteers" an und arbeitete fortan ehrenamtlich in der Caritas, in der Suppenküche in Omsk.
Seit zwei Jahren hilft sie Schwester Miriam dort mehrmals in der Woche: Sie hat Garderobendienst, gibt Essensportionen aus, spricht mit Besuchern, holt Kleidung für Bedürftige im Voratslager ab, kurzum, sie erledigt viele wichtige und unauffällige kleine Dinge. Mit einem herzlichen Lächeln und guter Laune eilt sie denjenigen zu Hilfe, deren Situation "noch schwieriger" ist.
Doch vor einigen Wochen wurde Tamara still und ihre Augen strahlten nicht mehr, vielmehr wirkte es oft, als würde sie Tränen zurückhalten. Nach mehrfachem Nachfragen sagte sie: "Ich fühle mich sehr unwohl, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ... kann ich etwas Essen mit nach Hause nehmen, wenn etwas übrig ist? Wie auch immer, selbst trockenes Brot reicht mir aus. Tut mir leid, ich weiß, dass unsere Besucher es nötiger haben, aber ich habe seit einer Woche nicht mehr zu Abend gegessen". Tamaras Rente beläuft sich auf 10.987 Rubel, das sind rund 170 Euro. 4.000 Rubel werden für die Nebenkosten der Wohnung ausgegeben, fast 2.000 für Medikamente und Futter für die Katze. Die Katze ist fast ein Familienmitglied. Mit ihr verbringt Tamara die langen sibirischen Abende. Ihr Mann starb vor fast 20 Jahren. Für andere Ausgaben gibt es etwas weniger als 5.000 Rubel - wenn der Wasserhahn nicht tropft oder etwas anderes kaputt geht, kann sie einen Monat lang damit auskommen.
"Aber in den letzten Monaten sind die Preise in den Geschäften sprunghaft gestiegen", erzählt Tamara. "Wo schaut meine Regierung hin?" - seufzt die Seniorin, die sich daran gewöhnt hat, dass der Staat sie beschützt und unterstützt und die sehr verärgert ist, wenn die Realität anders aussieht: "Zucker hat sich im Preis verdoppelt, Gemüse, Brot, Öl ... ich kann nicht einmal mehr in die Fleischtheke schauen. Das kann ich mir nicht mehr leisten".
So ist Tamara unerwartet zu einer Klientin geworden.
Seit Anfang des Jahres sind die Kosten für eine Mahlzeit in den Suppenküchen der Caritas Westsibirien um etwa 50 Prozent gestiegen. Und auch die Klientenzahl steigt stetig, da viele Rentner die gestiegenen Lebensmittelpreise nicht mehr zahlen können. Für die Caritas bedeuten die steigenden Preise und die ständig wachsende Besucherzahl große Probleme. Um mit den vorhandenen Fördergeldern alle Klienten weiterhin versorgen zu können, wird man die Portionsgrößen der Mahlzeiten reduzieren müssen.
Steigende Preise treffen nicht nur die Suppenküchen und deren Klienten, auch die Familien- und Kinderzentren und deren Klienten sind betroffen.
Die Armen-Schwestern vom hl. Franziskus engagieren sich mit ihrer Sibirienhilfe für die seelische und körperliche Not der Menschen in Sibirien. Ordensschwestern der Gemeinschaft haben über viele Jahre die Caritasarbeit im postkommunistischen Russland aufgebaut. Inzwischen leben und arbeiten die Schwestern wieder in Deutschland, aber die Verbundenheit und der Kontakt bleibt, und auch die Nöte und Sorgen der Menschen wurden nicht vergessen. Weitere Infos zur Sibirienhilfe finden sich auf der Webseite des Ordens: www.schervier-orden.de