Jedes Jahr, wenn die Kar- und Ostertage näher kommen, kommt sie auch wieder raus. Immer, wenn alle denken, die kennt kein Mensch mehr, kriecht sie aus ihren Löchern.
Am Napofluss taucht die Legende wieder auf, DIE große Osterlegende.
Und die erzählt man sich so:
Wisst ihr was? Hier am Napo ist Gott nicht im Himmel! Das sagen nur die anderen. Hier geht Gott auf den Feldwegen von einer Hütte zur nächsten, die Leute besuchen. Wie sieht DER denn aus?! So kommt ja kein Mensch auf die Idee, dass das Gott sein könnte, barfuß, dreckige Jeans, löchriges Unterhemd, das wohl mal weiß war, knorriger Stock und die Shikra, seine geflochtene Umhängetasche.
Jetzt kommt er zur Hütte von Sisa und ruft schon von weitem: „Kawsankichu? Lebst du noch?” So begrüßen sich die Leute hier. „Ja, ich lebe,” sagt die alte Sisa. „Aber sie haben mich allein gelassen. Meine Kinder sind in die Stadt. Jetzt hab ich nur noch meine Hühner hier. Lebst du noch?” - „Ja,” sagt der Dahergelaufene mit den dreckigen Kleidern. „Ich will hier weiter den Fluss runter. Bin schon seit heute Morgen auf den Beinen. Hast du nicht was zu essen? Kann ich nicht bei dir übernachten?” - „Komm rein,” sagt Sisa, „ein paar grüne Bananen hab ich noch und ich koch dir ein Ei.” Müde lässt sich der alte Mann auf den halb durchgesägten Baumstamm fallen, der in der Hütte als Bank dient. Sisa bringt eine Schale mit selbstgebrautem Maniokbier, das immer in der Küche steht und jedem Gast zuerst angeboten wird. Dann bringt sie auch den Emailleteller mit kalten Kochbananen, dem heißen Ei und auch eine dicke Prise Salz am Tellerrand. Das wird den Alten wieder aufpäppeln, denkt sie. Der fragt nach den Kindern, den Enkeln, den Feldern und den Ereignissen der letzten Zeit. Er kann gut zuhören, bis ihm die Augen fast zufallen, er sich auf die Bank legt und schon eingeschlafen ist.
Beim Morgengrauen ist er wach und auch Sisa hat in der Küche schon ein Ei gekocht. Er liebt diese Wärme in den Händen am Morgen. Dazu gibt es den schwarzen, heißen, bitteren Wayusatee. Der tut gut. Dann nimmt er seinen Stock und macht sich wieder auf den Weg. „Samashun - ruh dich aus,” sagt er zum Abschied den üblichen Gruß und dann noch beim Weggehen: „Guck mal in den Hühnerstall, was da los ist.” - „Ja gut. Pass du auf den Weg auf, die Geister sind wieder unterwegs!” - „Ja, ja, ich geh durchs Moor, aber sag es keinem.”
Als er weg ist, geht Sisa zum Hühnerstall und fällt fast vorn über die Wurzel. Die Blätternester, die sie für ihre drei Legehennen gemacht hat, quellen über und über vor Eiern. Auf dem Boden liegen mehr und noch mehr. Jetzt hat sie endlich was, das sie verkaufen kann, um mit dem Geld etwas Öl, Zucker und Salz zu kaufen. „Das muss Väterchen Gott gewesen sein!!!” sagt sie laut vor sich hin. „Hoffentlich passiert ihm nichts unterwegs - die Geister sind wieder da - - -“
Am nächsten Tag sind sie bei Sisa! „Wo ist er hin?” schreien sie schon vom Weg aus. „Gestern war Väterchen Gott bei dir!” - „Quatsch! Den hab ich seit ewigen Zeiten nicht gesehen. Was soll der denn hier wollen? Da müsst ihr schon woanders suchen! Verschwindet!” - „Das werden wir! Und wir finden ihn!!! Das kannst du glauben!” - - -
Ja, das werden wir dann mal sehen, am nächsten Montag an dieser Stelle.