„Das Jahr ist um, aber es ist längst nicht vorbei.“

Ein Besuch vor Ort in Gemünd und Stolberg

Großer Dank an die engagierten Fluthilfe-Teams für eine einzigartige Arbeit vor Ort. (c) Kathrin Wallraf
Großer Dank an die engagierten Fluthilfe-Teams für eine einzigartige Arbeit vor Ort.
Datum:
Mi. 13. Juli 2022
Von:
Kommunikation Bistum Aachen

Vor einem Jahr haben hunderttausende Menschen ihre ganz persönliche Zeitenwende erlebt. Binnen weniger Minuten löschten meterhohe Flutwellen Leben aus, vernichteten Existenzen und begruben Zukunftspläne unter Tonnen zerstörter Häuser und Straßen. In Stolberg, Schleiden, Eschweiler und in anderen Flut-Orten ist seitdem nichts mehr wie es war – oder wie die Fluthelfer von Caritas und dem Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) unisono berichten: Die Traumata bestimmen bei vielen das Leben. Eine Spurensuche.

Wie geht es weiter? Generalvikar Dr. Andreas Frick und Diözesancaritasdirektor Stephan Jentgens wollen ausloten, wo Kirche und Kommunen noch stärker zusammenarbeiten können und müssen. (c) Kathrin Wallraf
Wie geht es weiter? Generalvikar Dr. Andreas Frick und Diözesancaritasdirektor Stephan Jentgens wollen ausloten, wo Kirche und Kommunen noch stärker zusammenarbeiten können und müssen.

Spätestens nach wenigen Minuten drehen sich die Gespräche zwischen Nachbarn, beim Einkaufen oder in der Gemeinde immer wieder um die entscheidende Nacht. Vielen helfe das, um das Erlebte zu verarbeiten, beschreibt Dorothea Gehlen, Kopf der Caritas-Fluthilfe. Doch nicht immer werde offen ausgetauscht, was einen im Inneren belaste. „Viele trauen sich auch nicht.“ 

Die psychosoziale Belastung sei jedenfalls unermesslich, ist in Gemünd zu hören. Ungefähr ein Drittel der Menschen kompensiere das Trauma durch Aktivität, ein Drittel verfalle in Agonie und das weitere Drittel habe noch gar nicht realisiert, welche Anträge, Fördermöglichkeiten und Hilfen überhaupt in Anspruch genommen werden können. Darüber können auch bereits renovierte, sanierte und modernisierte Fassaden nicht hinwegtäuschen. „Es gibt viele, die noch von niemandem aufgesucht wurden oder es aber auch selbst nicht wollen“, so Gehlen. 

„Was uns Corona genommen hat, hat die Flut noch einmal verstärkt“, zeichnet Ute Stolz, engagierte Vorständin des Regionalcaritasverbandes Eifel in Schleiden, im Gespräch mit Generalvikar Dr. Andreas Frick und Diözesancaritasdirektor Stephan Jentgens ein drastisches Bild. Vereinsamte Senioren, ältere Menschen, die aufgrund mangelnder digitaler Kenntnisse überhaupt keine Anträge stellen können, sind nur eine Facette im täglichen Wirken der Fluthilfe-Mitarbeitenden. Viele alte Menschen werden als sehr bescheiden wahrgenommen. Viele hadern zudem damit, nunmehr selbst zu Spendenempfängern zu werden. Auch in den eigenen Caritas-Reihen waren und sind viele Kolleginnen und Kollegen selbst betroffen. Das verlangt nach Fingerspitzengefühl, Unterstützung und Begleitung.

 „Was wir hier machen, ist gelebtes 'Heute bei dir', sieht Stolz den angestoßenen Reformprozess im Bistum Aachen in Schleiden, Gemünd und Kall vom Kopf auf die Füße gestellt. „Wir sind da, machen und packen an. Ein Konzept haben wir uns vorher nicht überlegt.“

Aus der Krise hat sich für die Verbände vor Ort eine neue und fruchtbare Vernetzung ergeben. Seit Dezember letzten Jahres arbeiten im Hilfszentrum Schleidener Tal an der Kölner Straße Caritas, Malteser, AWO, Diakonie und Rotes Kreuz über Verbandsgrenzen hinweg zusammen. Die Stadt Schleiden ist auch dabei. „Das funktioniert sehr gut“, betont Dorothea Gehlen. Im Konferenz-Raum haben sie die übergreifende Zusammenarbeit sogar in einer gemeinsamen Logo-Wand dokumentiert.

Diese Vernetzung sei notwendig, weil so viel mehr Wirksamkeit entstehen könne, unterstreicht Stolz. Der belastende Fachkräftemangel, der Bedarf an Expertise müsse den Blick weiten. Diesen Schwung, wird zwischen den Zeilen deutlich, würde sie sich auch von den pastoralen Kollegen wünschen. „Bei geistlichen Gesprächen stoßen wir durchaus an Grenzen, erkennen aber die starken Bedürfnisse vieler Menschen nach pastoraler Begleitung. Wie schön wäre es, wenn wir Hand in Hand arbeiten könnten.“ Sie hält die engere Zusammenarbeit von Kirche und Caritas vor Ort für ein Erfolgsmodell der Zukunft. Auch in anderen Gemeinden. „Wenn wir jetzt nicht neu und engagiert denken, ist es in fünf Jahren vorbei“, fordert sie mehr Tempo beim Umdenken. 

Große Sorgen bereitet dem Team zudem die mangelnde Unterstützung der kleinen mittelständischen Betriebe. Weder IHK noch Handwerkskammern würden da in die Beratung gehen. Die Hürden für Unternehmer sind hoch. Beantragen sie Fluthilfe, müssen sie gleichzeitig dokumentieren, dass sie ihr Geschäft in den kommenden fünf Jahren weiterbetreiben werden. Für viele, die vor der Altersgrenze stehen, kaum machbar. Andreas Frick signalisierte, dass er all diese Themen auch in seinen weiteren Gesprächen mit der Politik und Kommunalen Entscheidungsträgern einbringen werde. „Wichtig ist, dass wir gemeinsam das Gemeinwesen stärken.“

Wie wichtig ein kurzer Brückenschlag in die Politik ist, wird ebenso deutlich. Für die Hilfsanträge seien viele bürokratische Hürden zu nehmen. Den direkten Draht zum Landtagsabgeordneten scheint Stolz, die für die CDU im Euskirchener Kreistag sitzt, ohnehin zu haben. Und auch in Schleiden fühlt sich die Mannschaft mit dem unbürokratisch denkenden Bürgermeister Ingo Pfennings gut aufgehoben. 

Eine Autostunde entfernt fallen die Begeisterungsstürme für die Politik dagegen deutlich verhaltener aus. „Wir vermissen schon das Engagement der Stadt“, sagt Margit Schmitt, Geschäftsführerin des SKF in Stolberg. Im letzten Jahr hatte die Städteregion Aachen die Bürger in eigens aufgestellten Bussen durch städtisches Personal bei der Antragsstellung unterstützt. „Für die Anschlussanträge gibt es nunmehr nur noch wenige Mitarbeiter in über die Stadt verteilten Ämtern, so dass viele zu uns kommen“, erzählt sie. 

Hier beim SKF in der Stolberger Birkengangstraße weiß man seit Jahrzehnten um die gesellschaftliche und wirtschaftliche Zweiteilung der Stadt. Vor einem Jahr strömte dann auch noch die Flut auf einer irrsinnigen Breite von mehr als hundert Metern von der Stolberger Burg bis zum Stadtteil Mühle. Auf einen Schlag verlor die Stadt die gesamte Infrastruktur entlang der Talachse. Geschäfte waren weg, Wohnungen nicht mehr bewohnbar.

„Wir waren die ersten, die die 200 Euro Soforthilfe in bar ausgezahlt haben“, so Margit Schmitt. „Lange bevor irgendjemand anderes überhaupt etwas gemacht hat.“ Laut Stephan Jentgens hat sich der Diözesancaritasverband, der auch die Weiterleitung der beim Bistum Aachen eingegangenen Spenden organisiert, ganz bewusst für eine unterschiedliche Einbindung der lokalen Angebote entschieden. „In der Städteregion Aachen haben wir Verbände wie SKF und SKM ausgesucht, um die Spenden auszuzahlen. In der Eifel macht das der regionale Diözesancaritasverband.“ Für Jentgens ist klar: „Wir gehen dorthin, wo die stärkste Nähe zu den Menschen vor Ort besteht.“ Das Team in Stolberg zollt Jentgens und Generalvikar Andreas Frick großes Lob für das rasche Handeln vor einem Jahr. Das sei unbürokratisch und trotzdem geordnet verlaufen. 

Insgesamt hat der SKF bis dato 53 000 Euro an 265 Personen ausgezahlt. Viele Spenden seien eingegangen, sagt auch Pfarrer Hans-Rudolf Funken. Darunter auch eine Spende in Höhe von 10 000 Euro aus dem Ostfriesischen. Und auch die Pastöre in Funkens ehemaliger Heimat Dülken hätten kräftig gesammelt. „Die Solidarität war und ist bis heute beeindruckend.“ Allerdings vermisse er bisweilen auch die Zuverlässigkeit bei denjenigen, die Spenden erhalten würden. Es sei doch klar, dass Spenden nur gegen Belege ausgegeben werden können. Es müsse alles korrekt dokumentiert werden, damit auch die Spender wüssten, wo ihr Geld hingeflossen sei, Funken. „Auf eine Quittung für eine Waschmaschine warte ich bis heute“, sagt er.

„Vor der Flut hatten wir bereits die höchste Arbeitslosigkeit in der Region, die meisten Alleinerziehenden und die stärkste Kinderarmut“, beschreibt Karolin Wulfers, die die Beratungsstelle leitet.
Und Funken, der in Flutzeiten viel unterwegs war sagt: „Ich konnte mir das unermessliche Leid vorher nicht vorstellen. Wir müssen zu den Menschen gehen.“

Marliese Kalthoff

Besuch von Generalvikar Dr. Andreas Frick und Diözesancaritasdirektor Stephan Jentgens in den Flutgebieten

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Ein Jahr nach der Flut

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