„Sprechen wir miteinander darüber, was uns Hoffnung gibt“

Bischof Dr. Helmut Dieser (Archivfoto) (c) Bistum Aachen / Andreas Steindl
Bischof Dr. Helmut Dieser (Archivfoto)
Datum:
Sa. 31. Dez. 2022
Von:
Stabsabteilung Kommunikation

Aachen, - Der Bischof von Aachen, Dr. Helmut Dieser, hat in seiner Silvesterpredigt eindringlich die Kraft der Hoffnung beschworen, „die uns Menschen menschlicher macht“. „Sprechen wir miteinander darüber, was uns Hoffnung gibt!“,  forderte er in seiner Ansprache bei der Jahresschlussandacht im Aachener Dom. Dieser appellierte an die Verantwortlichen in Belarus, die Regimegegnerin und Karlspreisträgerin von 2022, Maria Kolesnikova, umgehend aus der Haft zu entlassen und ihr alle nötige medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Im Hinblick auf die Kirche erinnerte Dieser daran, dass sie nicht nur für Skandale und Verbrechen stehe und nicht nur von Niedergang und Insolvenzängsten erfüllt sei, sondern auch mitten in der Gesellschaft Hoffnung wecken und Mut machen könne. „Wo das geschieht,  bricht mitten in aller Not neu die Freude an Gott auf“,  betonte der Bischof.  

In seiner Predigt setzte Dieser sich eingehend mit dem heutigen Mega-Trend der Säkularisierung auseinander. In den westlichen Gesellschaften sähen immer mehr Menschen keinen Vorteil und keinen Mehrwert mehr darin, das eigene Leben in religiösen oder kirchlichen Bezügen zu leben und zu deuten, führte Dieser aus. Gott werde im Alltag nicht vermisst und gerate in Vergessenheit. „Gott hingegen jeden Tag ernst nehmen, den Alltag mit Gott leben, regelmäßig beten, glauben und im Glauben Orientierung, Vergewisserung suchen, das ist für immer mehr Menschen einfach nur schräg, seltsam, wirkt verdächtig“, unterstrich der Bischof. „Säkularisierung heißt, dass das Leben für immer mehr unserer Mitmenschen einfach so stimmt - ohne Gott.“ Auch die vielen Kirchenaustritte im vergangenen Jahr folgten diesem Trend der Säkularisierung. Mit den zunehmenden Austritten aber verliere die Kirche als Institution an Gewicht, gab Dieser zu bedenken. „Die Politik reagiert darauf. Nähe zur Kirche kann Stimmen kosten. Nähe zur Kirche kann verdächtig machen.“

Der Bischof von Aachen wies aber auch darauf hin, dass die Austrittswelle trotz aller Plausibilität, die das Leben ohne Gott im öffentlichen Bewusstsein habe, und trotz der Skandale in der Kirche nicht total sei. „Es bleiben mehr Menschen in der Kirche als gehen“, erklärte der Bischof. Deshalb rief er mit Nachdruck dazu auf, in den Mega-Trend der Säkularisierung, die „Lawine in Zeitlupe“, mitten hineinzugehen, sie ernst zu nehmen, mit ihr mitzugehen und Wege zu suchen, wie Menschen eine überraschende und beglückende Plausibilität des Glaubens heute neu erfahren und für ihr Leben nicht mehr verlieren könnten. „Immer mehr kommt es schon jetzt und künftig darauf an, dass es ganz viele verschiedene Möglichkeiten zur Begegnung mit dem Glauben geben muss“, hob der Bischof hervor.

Ausführlich ging Dieser auch auf die politischen Ereignisse in diesem Jahr ein, in erster Linie auf den verbrecherischen Angriffskrieg in Europa. Irgendwie habe das alle in Deutschland auf dem falschen Fuß erwischt und keiner wisse heute, wohin das alles führen werde und wie die Aggression Russlands gestoppt werden könne. Dieser erinnerte aber auch an den Aufstand der jungen Bevölkerung im Iran, die Proteste gegen die Einparteien-Diktatur in China und die brutale Unterdrückung durch das Militär in Myanmar. Die Welt sei auf dem Weg in eine Phase der Konfrontation, aber Gott komme in einer solchen politischen Lagebeschreibung nicht vor. Nach Ansicht Diesers gerät eine sich zunehmend säkularisierende Gesellschaft durch wachsende politische Bedrängnisse und Ungewissheiten in eine immer tiefere Ernüchterung nach dem Motto: „Wir sind uns völlig selbst überlassen!“ Politik könne aber niemals völlige Befriedung aus eigenen Mitteln herstellen, sondern müsse vielfältige Unzufriedenheiten teilen können und immer wieder Kompromisse schließen.

„Mitten in der Säkularisierung, so wage ich zu behaupten, braucht es immer mehr Menschen, die der Politik keinen Sinnüberbau aufdrängen müssen, den sie nicht hat und nicht einlösen kann, die andere Quellen kennen von Hoffnung und von Zuversicht, von Mut zur Vorläufigkeit, von Bereitschaft zu geben auch ohne Gegenleistung, aber um des gemeinsamen Wohles aller willlen“, hob Dieser hervor. „Diese Quellen gibt es! Sie fließen, und sie fließen in unserem christlichen Glauben. Es kommt darauf an, dass immer mehr Menschen sie entdecken und wir Mut und Kraft gewinnen aus ihnen zu schöpfen und mit den Menschen an diese Quellen zu gehen, so dass sie in ihnen selbst zu fließen beginnen.“ An Gott zu glauben, das bedeute: Orientierung haben, woher das Leben komme, warum es Menschen gebe, warum in jeder Generation neue Lebenskraft von Gott in unsere Welt komme. „Rassismus, Generationenkonflikte, Fundamentalismus und religiöse Dominanz finden ein bleibendes Gegengewicht, wenn wir das glauben: Gott ist der Vater und der Lebensgeber aller Menschen und Kulturen! Gott hört nicht auf, die Menschen zu wollen und ihnen zum Leben zu verhelfen.“

Dieser verwies am Schluss seiner Silvesteransprache auf die Russin Irina Scherbakowa, Leiterin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und Trägerin des Friedensnobelpreises 2022. Sie habe in den Schilderungen von Überlebenden der Kerker und Gulags Stalins einen ganz konkreten Beweis dafür gesehen, dass es nichts Menschlicheres gebe als die Hoffnung. „Die Hoffnung widersteht der Diktatur, ja sogar ihrer Brutalität und ihrem Stumpfsinn“, schloss der Bischof.

Homilie von Bischof Dr. Helmut Dieser in der Jahresschlussandacht 2022