Ansprache: zum 5. Sonntag der Osterzeit 2025
Als eher rationaler Mensch hat mich das am vergangenen Freitag sehr berührt, als ein Mann bei uns in der Citykirche ans Mikrofon trat und aus seiner Lebensgeschichte erzählte.
Die 1. Heimkinder community hat bei uns ihr 10jähriges Jubiläum gefeiert. Ganz zum Schluss der vielen Festreden trat Olli (ich habe den Namen geändert) ans Mikrofon. Er erzählte, dass er nach vielem hin und her Einblick in seine Heimakten bekommen hat. Er wurde bald nach der Geburt dort abgegeben, seine Eltern hat er nie kennengelernt. Das Heimleben war mühevoll. Versorgt zu werden ersetzt eine liebevolle Eltern-Kind-Beziehung eben nicht. Versorgung ist weit entfernt von Fürsorge. Dazu kamen Züchtigungen verschiedenster Art; Essensentzug, weil man in die Hose gemacht hat; Schläge, wegen blöder Nichtigkeiten; ja sogar Medikamentenversuche wurden an ihm vorgenommen. Über viele Jahre war seine Lebensgeschichte eine einzige Leidensgeschichte. Und nun, wo er weit über 60 Jahre alt ist, erfährt er, dass seine Eltern reiche Besitzer eines Unternehmens waren. Er wurde um sein Leben betrogen und um sein Erbe dazu. Das Leben kann verdammt ungerecht sein.
Vor 10 Jahren hat ein engagierter Mensch, der wie Olli eine ähnliche Lebensgeschichte hinter sich hat, diesen Verein hier in Mönchengladbach gegründet. Hintergrund war, dass das erlittene Unrecht endlich ans Tageslicht gebracht werden sollte. Man wollte den Geschlagenen (ich möchte das Wort ‚Betroffene‘ vermeiden) eine Heimat geben in diesem Verein und den Täter*innen ihr Handeln ins Bewusstsein bringen, nicht, um Vergeltung zu üben, sondern um einer Menschlichkeit willen, die die Täterorganisationen zu oft in Bürokratismus zu ertränken versuchen. Und ja, es geht auch um Verantwortung, die sich zeigen muss darin, wenigstens heute den Geschlagenen ein würdiges Leben zu ermöglichen.
Dass sich solch grausame und missbräuchliche Alltagsgeschichten auch in christlichen Heimen vollzogen haben, ist kaum vorstellbar, aber dennoch leider wahr – auch hier in Mönchengladbach.
Die 1. Heimkinder community legt den Finger in die bis heute offenen Wunden und ich bin zutiefst dankbar, dass ich, der ich ja zu dieser Täterorganisation „Kirche“ gehöre, das Vertrauen einiger dieser Geschlagenen Menschen geschenkt bekommen habe. Und immer, wenn ich dort in ihrem Vereinsheim zu Gast bin, dann spüre ich etwas ganz Besonderes. Dass die so ungerecht vom Leben geschlagenen Menschen, die heute alle im Rentenalter sind, an ihrer Lebensgeschichte nicht verzweifelt sind, nicht in Bitterkeit versunken sind, nicht in Lethargie verfallen sind, sondern heute um ihr Daseinsrecht in Kirche und Gesellschaft kämpfen – und das, das ist das unvorstellbar Wunderbare, mit einem reinen und liebevollem Herzen. Das klingt jetzt vielleicht pathetisch; aber für mich gleicht es schon einem Wunder, dass Menschen, die so viel Leid und Ungerechtigkeit erfahren haben, heute solche Lebendigkeit und Tatkraft an den Tag legen, sich gegenseitig zu unterstützen und wirklich eine tolle Gemeinschaft sind.
Ich erzähle Ihnen das, weil es für mich einen direkten Zusammenhang zu den heutigen Texten gibt. Es gibt so etwas wie eine die Welt übersteigende göttliche Gerechtigkeit. „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“, so haben wir in der Lesung gehört. Es gibt eine Hoffnung in den Menschen, die bei allem Dreck, bei allem Unrecht, bei allem nicht vorstellbaren Leid, das sie erfahren und erdulden mussten, daran vertraut, dass das Leben neu werden kann.
Ich denke auch an die in der österlichen Woche verstorbene Margot Friedländer. Von den Nazis ins Konzentrationslager gebracht gemeinsam mit ihrer Familie, wo sie als einzige überlebt hat. Mit achtundachtzig Jahren kehrt sie zurück aus den Staaten: Nicht, weil sie vergessen machen wollte, was ihr und Millionen anderen an Leid zugefügt worden ist, sondern weil sie erinnern wollte daran, dass wir alle Menschen sind, gleich welcher Religion oder Kultur wir angehören. Auf ihrer Beisetzungsfeier fasste es der Vorsitzende der Berliner jüdischen Gemeinde Gideon Joffe, so zusammen, dass Margot Friedländer aus dem Exil nach Deutschland zurückgekommen sei als ein Mensch, der nicht hassen wolle, sondern erinnern, als jemand, der nicht anklagen, aber erzählen wolle.
Die wunderbare Dichterin und Theologin Dorothee Sölle hat Jesus einmal als den glücklichsten Menschen bezeichnet. Sie schrieb: "Ich halte Jesus von Nazareth für den glücklichsten Menschen, der je gelebt hat. Jesus erscheint mir in den Evangelien als ein Mensch, der seine Umgebung mit Glück ansteckte, der seine ganze Kraft weitergab, der verschenkte, was er hatte." Und dann schrieb sie weiter: "Je glücklicher einer ist, um so leichter kann er loslassen".
Olli, Margot Friedländer, viele andere Menschen auch, haben ein Glück in sich entdeckt, das ihnen die Kraft geschenkt hat, unüberwindbar scheinende Mauern doch zu überwinden: Das Glück, ihr Leben als ein wunderbares Geschenk wahrzunehmen.
Sie erinnern sich vielleicht, wie das heutige Evangelium begonnen hat? Nicht, wie sonst üblich „In jener Zeit“, sondern sehr viel präziser und klarer „Als Judas hinausgegangen war“. Jesus ahnte, was ihm widerfahren würde, dass er verraten und verkauft werden würde, dass er den ungerechtesten Tod erleiden müsste, den ein Mensch sich überhaupt vorstellen kann. Und in diesem Wissen gab er seinen Freundinnen und Freunden einen Rat: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ So erinnert er uns daran, dass in uns eine Liebeskraft von Gott hineingelegt worden ist – in jeder und jedem von uns, die nicht kaputtbar ist, die selbst von dem unmenschlichsten Geschehen nicht zerstört werden kann: Die Hoffnung eines neuen Himmels und einer neuen Erde.
Dank all jenen, die uns diese Botschaft heute vermitteln.