Zur Wahrheit muss die Gerechtigkeit gehören

Bischof Dieser warnt in seiner Karfreitagspredigt vor der Verwechslung von Wahrheit mit Macht

Kreuzigung, Detail aus der Pala d'oro im Aachener Dom (c) Domkapitel Aachen/Andreas Steindl
Kreuzigung, Detail aus der Pala d'oro im Aachener Dom
Datum:
Fr. 29. März 2024
Von:
Stabsabteilung Kommunikation

In der Karfreitagsliturgie im Aachener Dom hat der Bischof von Aachen, Helmut Dieser, warnend darauf hingewiesen, dass die Verwechslung der Wahrheit mit der Macht immerfort geschehe.

„Sie geschieht in nicht enden wollender Weise in der Ukraine: Russland will mit seiner Macht sein Geschichtsbild durchsetzen“, mahnte der Bischof in seiner Predigt. „Wessen Macht siegt, auf dessen Seite ist die Wahrheit, so der bittere, mörderische Fehler.“ Wahrheit vertrage sich aber nicht mit Fehlern und Irrtümern. Das wüssten und spürten und erlitten alle, die auf der schwächeren Seite stünden, noch mutig protestierten und doch alles verlören, fügte Dieser hinzu. „Und wer immer das spürt, weiß, dass zur Wahrheit die Gerechtigkeit gehören muss“, unterstrich der Bischof mit Nachdruck.

n seiner Predigt nannte Dieser als Beispiele für die, die das spürten, die Weggesperrten in den Gefängnissen und Folterkellern, die in Schauprozessen Verurteilten, die als hinzunehmende Opfer ums Leben Gekommenen in Gaza oder die willkürlich in Terrororgien Ermordeten in Israel oder zuletzt im Konzertsaal in Moskau, aber auch die unzähligen Opfer von Völkermord und Holocaust sowie die Ausgelöschten und Vergessenen aller Ideologien, „die das Lebensrecht jedes Menschen ihren aufgeklärten Plänen unterwerfen und doch früher oder später auch selber machtlos sterben werden“. Die offene Frage, die Pilatus Jesus am Ende seines Verhörs gestellt habe und die seitdem durch alle Zeiten hindurch mit der Menschheit mitwandere, laute „Was ist Wahrheit?“ Nach Ansicht von Dieser verwechselt Pilatus die Wahrheit mit seiner Macht, freizulassen oder zu kreuzigen. Jesus aber gebe dem Pilatus keine Antwort mehr, weil die Wahrheit, die mit Jesus aufgehe und sich als Wahrheit über alles erweise, nicht in Worten allein liege. „Sie wird auch nicht in Beweisführungen ausgeschöpft und sie wird sich schon gar nicht gebärden als eine Macht, auszulöschen“, betonte Dieser. „Ihre Gebärde und ihr Wirken ist es, aufzurichten, heimzuführen, frei zu setzen, einzuleuchten und lebendig zu machen.“

Jesus sei nach seinem eigenen Bekunden geboren und dazu in die Welt gekommen, dass er für die Wahrheit Zeugnis ablege, und wer immer aus der Wahrheit sei, höre auf seine Stimme. „Gott ist beim Menschen, das ist die Wahrheit!“, hob Dieser hervor. „Gott ist beim Menschen: beim leidenden, beim unschuldigen, beim sterbenden Menschen, beim Auserzählten und bei jedem, der keine Macht hat oder nie mehr bekommt. Dagegen kommt kein Diktator an und kein Lügner, kein Folterknecht und kein Hochstapler.“ Gott sei beim Menschen, denn der Mensch gehöre zu Gott, auch wenn er seine Menschlichkeit aufs Spiel setze und sie verliere. Er sei beim Menschen gerade auch dann, wenn er schuldig sei, und schon dann, bevor der Mensch selbst es einsehe. „Wahrheit zeigt sich in Jesus als Liebe, als Liebe, die allem Anfang voran war und allem, was geschieht, voraus ist“, führte der Bischof aus. Man könne sie finden, aber sie zwinge nicht, und man könne sie verlieren, aber sie höre nicht auf. „Wer sie findet, schreckt zurück vor letzten Worten über andere, noch mehr vor letzten Taten, die andere zwingen zu irgendetwas, was nur als die eigene und nicht als gemeinsame Wahrheit erkannt wird“, mahnte Dieser. „Gott ist beim Menschen - aus Liebe: das ist die Wahrheit Jesu, die leidensfähig ist bis zum letzten Insassen von Gefängnissen und bis zu bitteren letzten Schuldeingeständnissen der Überführten.“ Die Wahrheit decke die Schuld und den Irrtum nicht zu, sondern sie schreie seit Abel zum Himmel und decke sie auf, aber sie sei größer als Schuld und Irrtum. „Sie eröffnet die größte anzunehmende Hoffnung.“

Abschließend hob Bischof Dieser hervor, dass Pilatus am Karfreitag keine Antwort auf seine Frage „Was ist Wahrheit?“ bekomme. Die Antwort beginne ihren Siegeslauf aber am frühen Ostermorgen. „Der Gekreuzigte wird der Auferstandene sein“, erklärte der Bischof. „Seine Wunden werden alle Wunden der Menschheitsgeschichte in sich hineinziehen und alle Mörder und Lügner entlarven: Wer Macht hatte, zu kreuzigen, hatte keine Macht, es noch einmal ungeschehen zu machen. Die Wahrheit aber hat alle Macht.“ Gott sei beim Menschen bis hinunter ins Grab und in die Hölle. Jesus werde so zum Ersten und zum Anführer aller Erlösten, die sich von da an vor nichts und niemandem mehr fürchten müssten. „Seine Wahrheit vertreibt alle Furcht, denn sie ist Liebe, Liebe, die alles vollbracht hat“, schloss Dieser seine Karfreitagspredigt.

 

Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser am Karfreitag