Homilie von Bischof Dr. Helmut Dieser in der Christmette,
24. Dezember 2021, im Hohen Dom zu Aachen
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Lesung 1: Jes 9, 1-6
Lesung 2: Tit 2, 11-14
Evangelium: Lk 2, 1-14
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Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Schwestern und Brüder,
„Es geschah aber in jenen Tagen“, so beginnt das Weihnachtsevangelium. Vielleicht klingt in unseren Ohren die Übersetzung von Martin Luther noch vertrauter: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging“.
„Es geschah“, „Es begab sich“: Mit Bedacht hat der Evangelist dieses Wort an den Anfang gesetzt.
Der lange Arm des Kaisers reicht damals weit über das ganze Imperium bis in die Außenprovinzen: in das damalige Syrien, Nazareth in Galiläa, Betlehem in Judäa. Die römische Staatsmacht ordnet eine Volkszählung an und sie greift in den Alltag der kleinen Leute hinein: Josef, der seine familiären Wurzeln in Betlehem hat, und seine Verlobte Maria, sie machen sich auf den beschwerlichen Weg.
Es geschah, damit will der Evangelist einen Gegenton anschlagen: Mag der Kaiser das große Rad drehen – was da darüber hinaus geschieht und zu werden anfängt, kommt von woanders her zustande.
Diese kleinen Verhältnisse hätten von sich aus auf die große Weltpolitik keinerlei Einfluss. Und dazu passt auch das Kleinsein des Kindes: Es kommt als hilfsbedürftiger Säugling und als armer Leute Kind auf die Welt. Betlehem ist überfüllt und bietet keine Unterkunft. Die Geburt findet draußen statt, die Leute in Betlehem kriegen wahrscheinlich kaum etwas davon mit.
Nur einige ebenfalls kleine Leute, die Nichtsgelter von damals, Viehhirten, erfahren, dass dort draußen ein Mann mit einer Frau lagert, die gerade ein Kind geboren hat. Für den Evangelisten Lukas ist dieses Kleinsein unvermeidlich, ja es kann gar nicht anders sein, weil es um Gott geht, um den wahren Gott im Vergleich zu Augustus, dem schon zu Lebzeiten göttliche Verehrung entgegen gebracht werden musste.
Der wahre Gott, das ist der Gott Israels, und der zwingt und überwältigt nicht. Das Volk, das er sich bildet, das ihn erkennt und mit ihm zu leben lernt, das soll das aus Zuneigung tun, aus Faszination, aus der innersten Bewegung des Herzens.
Es geschah, meint also auch: So fängt Gott an, Menschen zu gewinnen, er vertreibt die Angst, er stiftet Freude, die ansteckend ist und zu einer gemeinsamen Freude wird.
Darum sagt der Engel: „Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll“.
So entsteht ein großer Kontrast zu dieser Kleinheit, es wächst etwas Großes heran, das Gott im Sinn hat und das größer ist als alles, was Menschen zustande bringen.
Denn diese Geburt und dieses angekündigte Kind in der Krippe schaffen eine ganz neue Macht-Konstellation: Die Ehre ist allein bei Gott in der Höhe: und damit ist gemeint alles, was wir uns unter Macht, Herrlichkeit, Hoheit, Größe, Schönheit, Ewigkeit vorstellen können. Gott ist über allem und jenseits von allem. Alle Ehre und Verehrung gebühren ihm.
Doch zugleich geht eine neue Achse von ihm zu uns Menschen: Und die ist verankert in dem Kind in der Krippe: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr“.
Wer immer von nun an daran Gefallen und Freude findet, dass Gott wirklich die Welt in eine neue Machtkonstellation gestellt hat, der spürt den Frieden: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens“.
Schwestern und Brüder, Gott bleibt jenseitig, unsichtbar.
Das Kind von Betlehem und der Mann aus Nazareth aber sind es nicht, Jesus und sein ganzer Erdenweg sind sichtbar.
So sichtbar wie seine Kirche, das Volk, das an ihn glaubt, - sichtbar auch wir an diesem Heiligen Abend, 2021 Jahre später, versammelt hier im Aachener Dom.
Ist der unsichtbare Gott noch verbunden mit unserer Welt, mit uns?
Hat die neue Machtachse zwischen der Ehre Gottes in der Höhe und den Menschen seines Wohlgefallens bei uns eine Chance?
Wie spüren wir sie? Und wie wirkt sie sich aus?
Auch wir werden nicht überwältigt, zu nichts gezwungen!
Gott ist diskret, zärtlich, feinfühlig, er zielt immer auf unser Herz.
Der innere Mensch muss zustimmen, damit der äußere Mensch auf den Wegen geht, die in den Frieden auf Erden führen.
Wer innerlich, geistlich Weihnachten feiern will, braucht dafür Rezeptoren, Andockstellen: Was fehlt dir? Was schaffst du nicht? Was kränkt und ängstigt dich? Was könnte dich richtig froh machen? Was ist deine Erfahrung vom Glück, vom Sinn deines Lebens? Worauf hoffst du? Und was erwartest du als Ziel von allem?
In diesen inneren Fragen liegen die Rezeptoren, die Schnittstellen dafür, dass Weihnachten wirksam wird, und dadurch bahnt sich in jedem von uns eine innere Entscheidung an, die alles verändert.
Der Apostel Paulus schreibt darüber an seinen Schüler Titus: „Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen gerecht und fromm in dieser Welt zu leben“.
Damals gab es unzählige Vorstellungen von den Göttern und wie man sie zu verehren hatte. Die konkrete Lebensführung hatte damit meist wenig zu tun. Solche Unverbundenheit aber kann nicht mehr richtig sein, will der Apostel sagen, seitdem die Gnade Gottes in Christus für alle Menschen erschienen ist.
Für uns Menschen heute geht diese Unverbundenheit noch tiefer: Gott spielt für ganz viele Menschen gar keine Rolle mehr.
Nehmen wir als Spiegel für unsere ganze Bevölkerung, dass ein großer Teil der neuen Regierungsmitglieder sich beim Amtseid nicht zu Gott bekannt hat. Es scheint auch ohne zu gehen. Die Verantwortung eines Regierungsamtes, die Richtung des eigenen Lebens, die inneren Fragen, die jeder Mensch hat und durchlebt, müssen anders bewältigt werden, sie gelingen oder scheitern, ohne höhere Bedeutung, ohne Trost und Kraft, die geschenkt und nicht selbst entwickelt sind.
Die Verkündigung des Weihnachtsevangelium lädt jeden von uns ein: Und du? Was macht dein kleines Leben groß? Erwartest du es von dir selbst, von Anderen? Wie weit willst du dich öffnen? Darf Gott der Gott deines Lebens sein? Darf der Gedanke dich treffen: alles das, was von Christus verkündigt wird, könnte wahr sein?!
Die neue Machtachse zwischen der Welt und Gott kennt keinen Zwang. Keiner muss glauben.
Und trotzdem bewirkt Gott, was er von Ewigkeit her im Sinn hat.
Wer zu glauben beginnt, findet darum andere Quellen, die immer fließen. Und wer das Zeichen erkennt und annimmt, das die Engel ankündigen, das Kind in Windeln gewickelt, das in einer Krippe liegt, findet Gott bei sich selbst.
Denn dieses Kind teilt dein Menschsein mit dir. Er trägt deine Last. Er freut sich, bei dir zu sein. Er ist ohne Gewalt und schürt nie den Krieg. In diesem zarten, zerbrechlichen Zeichen des Kindes ist der große Gott, der nach dir schaut. Schau hin, um zu erkennen: Er liebt dich!
So will Gott unseren inneren Menschen erziehen, wie Paulus sagt.
So dürfen wir an Weihnachten zur Krippe gehen.
Und uns eben so von der Gottlosigkeit und dem irdischen begierigen Alles-Selber-Machen-Wollen lossagen.
Dann wird Gottes Herrschaft groß und wir gehen anders mit dem Leben um. Wir verlieren unsere Gier, unsere Angst zu kurz zu kommen, unsere Angst vor dem Aus.
„Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt“, kündigt der Prophet Jesaja an.
Nie und nimmer ist dieses irdische Leben nur ein Existieren bis zum Tod und dann Zurückfallen ins Nichts.
Denn das Volk, das im Todesschatten wohnt, sieht ein hell aufstrahlendes Licht, das von Gott kommt.
Und die Freude, die es jetzt, heute, auslöst, ist die Freude, in die wir eingehen werden ohne Ende.
So feiern wir Weihnachten 2021 mitten in der Pandemie und in den vielen anderen Krisen unserer Zeit, auf die kein heute lebender Mensch eine letzte Antwort hat.
Doch die Freude am Menschsein, die uns niemand nehmen kann und die allen Menschen gilt, das ist das wahre Kennzeichen des Christkindes. Heute dürfen wir alle sie neu spüren und miteinander teilen.
Frohe Weihnachten! Amen.